Ingolstadt
Haftverbüßung in der Klinik?

Staatsanwältin fordert für Pfaffenhofener Geiselnehmer fast sechs Jahre Gefängnis und Unterbringung

10.10.2018 | Stand 23.09.2023, 4:36 Uhr
Ab ins Gefängnis? Die Geste von Verteidiger Jörg Gragert gegenüber dem Pfaffenhofener Geiselnehmer könnte so gedeutet werden - tatsächlich wies der Anwalt seinem Mandanten am ersten Verhandlungstag den Weg zu dessen Platz im Gerichtssaal. Nun forderte Gragert vier Jahre Haft für die Tat. −Foto: Foto: Heimerl

Ingolstadt (DK) Im Prozess um die Pfaffenhofener Geiselnahme vom vergangenen November droht dem inzwischen 29-jährigen Angeklagten eine mehrjährige Haftstrafe, womöglich aber zugleich die längerfristige Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik. Die Staatsanwältin forderte bei den Plädoyers am Mittwoch fünf Jahre und zehn Monate Haft plus Unterbringung, der Verteidiger glatte vier Jahre Haft.

Am dritten Verhandlungstag hat sich die 5. Strafkammer des Landgerichts ausführlich mit den persönlichen Verhältnissen und der bereits längeren Krankengeschichte des angeklagten Aussiedlers befasst. Dabei kam zur Sprache, was zuvor bereits fragmentarisch in Zitaten aus den Akten aufgeschienen war - darunter auch einige Vorfälle, die in den vergangenen Jahren zu einer Vielzahl von Aufenthalten des Mannes in der Psychiatrie des Ingolstädter Klinikums geführt hatten.

Nachdem der gebürtige Kasache 1995 im Alter von sechs Jahren mit seiner Familie nach Deutschland (zunächst nach Thüringen, später nach Ingolstadt) gekommen war, hatte er offenbar nie engeren Anschluss an sein neues Umfeld gefunden, früh auch Desinteresse an der Schule gezeigt, keine Hobbys entwickelt, nach Abbruch der Hauptschule auch keine Arbeit gesucht, viel daheim bei der Mutter gehockt und nur wenige Freunde, wohl eher nur Bekannte, gefunden.

Schon mit 15 Jahren geriet er schwer an den Alkohol, trank angeblich in diesem zarten Alter bereits bis zu zwei Flaschen Wodka täglich. Später kamen offenbar immer häufiger Selbstmordgedanken auf. Vor allem nach Saufexzessen sollen seit 2009 teils bizarre Suizidversuche stattgefunden haben: Mal ritzte sich der junge Mann an den Pulsadern, mal probierte er einen Cocktail aus Alkohol und (angeblich aber nur wenigen) Tabletten.

Einmal soll er versucht haben, mit einem Grill in einem Campingzelt eine Kohlenmonoxidvergiftung herbeizuführen, ein anderes Mal hatte er gegenüber Helfern angegeben, von einem Sprung in die Donau nur durch das kalte Wetter abgehalten worden zu sein...

Bekannte und auch einige behandelnde Ärzte werteten diese Vorfälle wohl mehr als Hilferufe denn als tatsächliche Selbstmordversuche. Der Mann habe halt immer danach getrachtet, Aufmerksamkeit zu erregen, so einige recht gleich klingende Deutungen, die bei polizeilichen Vernehmungen in seinem Umfeld aufkamen.

Allergrößte Aufmerksamkeit hatte der Aussiedler, der im Prozess stets ruhig auftritt und oft regelrecht teilnahmslos wirkt, dann ja am 6. November vorigen Jahres mit seiner Aktion im Pfaffenhofener Kreisjugendamt bekommen: Die rund fünfstündige Geiselnahme, bei der sein Opfer, eine damals 31-jährige Verwaltungsangestellte, immerhin leichtere Schnittverletzungen erlitt, ist als bislang größter Polizeieinsatz in die Geschichte der Kreisstadt eingegangen. Der Mann hatte da in völliger Verkennung seiner Chancen seine kleine Tochter aus der Obhut einer Pflegefamilie freipressen wollen. Polizisten eines Sondereinsatzkommandos hatten die beklemmende Situation dann mit einem für den Täter überraschenden Zugriff beenden können. Er habe in diesen Stunden damit gerechnet, womöglich auch erschossen zu werden, bekannte der Aussiedler gestern vor Gericht.

Mit dieser höchst kriminellen Tat, die nach Einschätzung des Vorsitzenden Richters Thomas Denz so gar nicht zum sonstigen eher introvertierten Verhalten des Angeklagten passen will, hat der 29-jährige allerdings eine Schwelle überschritten: zu einer - möglicherweise noch lange vorhaltenden - Gefahr für die Allgemeinheit. Eine vom Gericht bestellte psychiatrische Gutachterin ist jedenfalls zu dem Schluss gekommen, dass eine langfristige Unterbringung des Mannes in einem psychiatrischen Krankenhaus nach dem Paragrafen 63 des Strafgesetzbuches gerechtfertigt wäre. Sie bescheinigte dem Angeklagten aufgrund einer schon länger bestehenden sogenannten hebephrenen Schizophrenie auch verminderte Schuldfähigkeit (Paragraf 21), jedoch keine Schuldunfähigkeit, da die Geiselnahme Planung und konsequente Ausführung über einen längeren Zeitraum erkennen lasse.

Staatsanwältin Verena März erinnerte in ihrem Schlussvortrag an die Todesangst und die langwierigen psychischen Folgen für das Opfer. Sie forderte eingedenk der durch eingeschränkte Schuldfähigkeit des Täters gebotenen Minderung des gesetzlichen Strafrahmens die fast sechsjährige Freiheitsstrafe, zu verbüßen in einer psychiatrischen Klinik. Die Nebenklagevertreterin, also die Anwältin des Opfers, schloss sich dieser Forderung an.

Verteidiger Jörg Gragert pochte zwar ebenfalls auf Strafminderungsgründe, mochte aber den Ausführungen der Gutachterin zur Gefahrenprognose für seinen Mandanten nicht folgen. Deshalb stellte er auch keinen Antrag auf Unterbringung, sondern hielt vier Jahre Haft für "ausreichend und angemessen". Der Angeklagte selber zeigte in seinem Schlusswort Reue: "Es tut mir leid, was passiert ist - es war ein Riesenfehler." Die Strafkammer will ihr Urteil diesen Freitag bekannt geben.
 

Bernd Heimerl