Ingolstadt
Flucht in Alkohol und Drogen

Im Kettensägen-Prozess ging es um die traurige Vorgeschichte der beiden Angeklagten - Urteil könnte schon morgen fallen

21.11.2018 | Stand 23.09.2023, 5:02 Uhr

Ingolstadt (DK) Im Kettensägen-Prozess sind die beiden verbliebenen Angeklagten auch nach Auffassung des psychiatrischen Gutachters schuldfähig. Wie schon die Gerichtsmedizinerin am vorausgegangenen Verhandlungstag kam auch Landgerichtsarzt Thomas Obergrießer nach Untersuchung der jungen Aussiedler und Würdigung der bisherigen Beweisaufnahme zu dem Schluss, dass die heute 20 und 21 Jahre alten Männer bei ihrem vehementen Angriff auf einen Pizzaboten im Piusviertel am 2. Januar dieses Jahres zwar alkoholbedingt enthemmt, aber voll steuerungsfähig waren.

Das Verfahren wird nicht mehr den ursprünglich angenommenen Zeitrahmen mit insgesamt zehn Prozesstagen bis Anfang Dezember benötigen. Vielmehr neigt es sich jetzt deutlich dem Ende zu. Wenn nicht noch Anträge die Sache in die Länge ziehen sollten - einer der beiden Verteidiger will einen solchen Schritt angeblich zumindest prüfen - will die Große Jugendkammer an diesem Freitag plädieren lassen und möglichst auch schon das Urteil beraten und verkünden.

Vorsitzender Thomas Denz gab am Mittwoch einen nach Anhörung der Sachverständigen vom Montag (DK berichtete) bereits erwarteten rechtlichen Hinweis, wonach das Gericht bei Gesamtwürdigung der Beweise auch zu dem Schluss kommen könnte, dass in diesem wegen der Tatumstände (Angriff mit Axt und Kettensäge) viel beachteten Fall nicht zwingend auf den von der Staatsanwaltschaft angeklagten versuchten Totschlag erkannt werden müsse. Vielmehr, so Denz, komme für die beiden jungen Männer auch eine Verurteilung wegen einer gemeinschaftlich begangenen versuchten gefährlichen Körperverletzung in Betracht. Die Kammer zieht demnach auch in Erwägung, für die grundsätzlich geständigen Täter anstatt einer Haftstrafe jeweils die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu verfügen.

Letzteres hat auch der Gerichtsarzt empfohlen. Denn beide Angeklagten sind stark an Cannabis gewöhnt und haben auch schon eingehender Erfahrungen mit Kokain und Partydrogen wie Ecstasy gemacht. Bei beiden Männern hat diese zumindest psychische Abhängigkeit auch das Sozialverhalten stärker beeinflusst: Dass sie beim schulischen Werdegang und erst recht bei Versuchen, eine Berufsausbildung zu absolvieren, wenig Durchhaltevermögen bewiesen haben, ist (nicht nur für Psychoanalytiker) auffallend und passt ins Bild, dass auch Mitarbeiterinnen der Jugendgerichtshilfe bei ihren Explorationen von den Heranwachsenden gewonnen haben.

Nach den Ausführungen der Sozialpädagoginnen muss beiden jungen Männern bescheinigt werden, auch Opfer ihrer familiären Umstände geworden zu sein. So ist der in Russland geborene Kettensägen-Angreifer (21) angeblich stark durch das sehr frühe Abtauchen des Vaters und ein schlechtes Verhältnis zum Stiefvater geprägt worden. Die Mutter soll stark alkoholabhängig gewesen sein und dementsprechend wenig Einfluss auf die Erziehung genommen haben. Die familiären Zerwürfnisse sollen dazu geführt haben, dass der Sohn aus der Wohnung geworfen und damit (noch als Jugendlicher) obdachlos wurde. Seine Flucht in Alkohol und Drogen erscheint vor diesem Hintergrund nicht völlig unerklärlich.

Auch der Komplize (20), ein gebürtiger Kirgise mit inzwischen deutscher Staatsangehörigkeit, hat offenbar unter den Besonderheiten seines Aussiedlerlebens gelitten. Seine Eltern, angeblich beide alkoholkrank, sollen sich auch nach 16 Jahren in der Bundesrepublik kaum integriert haben und fast kein Deutsch sprechen. Der Junge wuchs mit seinen Brüdern bei der Oma auf, die letztlich aber trotz bester Absichten die Kontrolle über den Jugendlichen verlor. Beide Angeklagten haben einige Vorstrafen wegen Diebstählen und BTM-Delikten. Der Jüngere verbüßt derzeit noch eine einjährige Haftstrafe.

Bernd Heimerl