Ingolstadt
Flucht aus der Ukraine mit behindertem Kind

Irina hat mit Mann und schwer kranker Tochter Zuflucht auf Gut Aufeld gefunden – neben 20 weiteren Familien

18.05.2022 | Stand 23.09.2023, 1:12 Uhr

Auf der Plastik-Erdkugel im Garten zeigt Irina ihre Heimat Ukraine. Zusammen mit ihrer behinderten Tochter Zlata und ihrem Mann flüchtete sie vor dem Krieg. Rechts der Geschäftsführer der Lebenshilfe, Peter Koch, in der Mitte Einrichtungsleiterin Nadine Imhof. Larissa Hirsch (links) dolmetschte. Foto: Stückle

Von Ruth Stückle

Ingolstadt – Sechs Tage verbringt die Familie die meiste Zeit im Keller des neunstöckigen Wohnblocks, in dem Irina, ihr Mann und die siebenjährige Tochter Zlata in einer kleinen Eigentumswohnung in Boyarka leben, etwa 15 Kilometer von der ukrainischen Hauptstadt Kiew entfernt. Dann fällt die Entscheidung: „Wir müssen weg.“ Am 2. März machen sich die drei mit dem Auto auf den Weg. Nach einem dreiwöchigen Zwischenstopp endet dieser in Deutschland – und das mit einem schwerbehinderten Kind, das spezielle Nahrung und eine besondere Betreuung benötigt. Das ist auch der Grund, warum Irinas Mann mitkommen kann, statt für sein Land zu kämpfen. Ein Journalist stellt den Kontakt zu freiwilligen Helfern in Ingolstadt her. Jetzt leben die drei auf Gut Aufeld, einer Begegnungsstätte der Lebenshilfe-Werkstätten im Ingolstädter Stadtteil Hagau, die die Lebenshilfe der Stadt für Ukraineflüchtlinge mit behinderten Kindern zur Verfügung gestellt hat. 21 Familien leben hier zurzeit – meistens Mütter mit Kindern.

Seit 2005 bietet das in ländlicher Idylle neben einem Reittherapiezentrum gelegene Gut Aufeld Menschen mit Behinderung einen Arbeitsbereich im Zimmerservice und in der Hauswirtschaft an und ist zugleich Erholungsort für Menschen mit Behinderungen. Doch für den Rest dieses Jahres sind Buchungen nicht möglich. Gut Aufeld ist für ukrainische Flüchtlingsfamilien mit behinderten Kindern reserviert.

Angesichts der Lage in der Ukraine „haben wir uns beim Sozialamt gemeldet und vorgeschlagen, Gut Aufeld komplett der Stadt zur Verfügung zu stellen“, erzählt Peter Koch, Geschäftsführer der Lebenshilfe in Ingolstadt. Denn Familien mit einem behinderten Kind könnten nicht in eine normale Notaufnahmestelle. Die Stadt hat das Angebot dankbar angenommen. Irina und ihre Familie waren am 22. März die ersten, die hier Zuflucht fanden.

Die ukrainischen Familien und Kinder sind von dem, was sie in der Heimat erlebt haben, traumatisiert. „Viele Frauen sind mit ihrem Kind allein da, weil ihre Männer im Krieg kämpfen“, sagt Nadine Imhof, die Leiterin von Gut Aufeld. Die Geflüchteten bekommen nicht nur eine Bleibe, sondern auch Hilfe im Umgang mit den Behörden. Arzttermine werden vereinbart, Kontakte zu anderen Einrichtungen und Medizinern geknüpft. „Wir suchen dringend russischsprachige Ärzte“, sagt Koch.

Die 35-jährige Irina ist eine von wenigen, die Englisch spricht. Sprachlich unterstützt von der Sozialpädagogin Larissa Hirsch, die in der Einrichtung ehrenamtlich einen Deutschkurs gibt und übersetzt, erzählt sie ihre Geschichte aber doch lieber in ihrer Muttersprache. Tochter Zlata sitzt währenddessen auf ihrem Schoß. Das Kind leidet an Zerebralparese, eine frühkindliche Gehirnstörung, die Bewegungsstörungen und Muskelsteifheit (Spastik) auslöst. Außerdem ist Zlata Epileptikerin, was für die Flucht eine besondere Herausforderung war. In Deutschland muss das Mädchen medikamentös neu eingestellt werden. Denn die Arzneien, die sie in der Ukraine bekam, gibt es hier nicht.

Die Flucht führt ins ukrainische Iwano-Frankiwsk. In der etwa 200 Kilometer von der polnischen Grenze gelegenen Stadt bleibt die Familie drei Wochen. Der Krieg sei hier nicht so in vollem Umfang wie rund um Kiew gewesen, dennoch habe es drei bis viermal am Tag Alarm gegeben „und wir mussten in den Luftschutzbunker“, wie Irina erzählt. „Wir haben die Raketen gehört.“ Als es immer schlimmer wird, packt die Familie erneut die Sachen – und landet dank ehrenamtlicher Hilfe in Ingolstadt. Irina arbeitet auf 450-Euro-Basis auf Gut Aufeld als Köchin. Ihr Mann hat einen Job bei einer Sanitärtechnik-Firma gefunden. „Als sie kam, fragte sie als Erstes, was sie helfen kann“, so Einrichtungsleiterin Imhof. Diese Eigenschaft habe man auch bei den anderen Ukraineflüchtlingen bemerkt. „Sie wollen sich einbringen.“ Vielleicht auch, um nicht ständig an die schrecklichen Ereignisse in der Heimat zu denken, vermutet Sozialpädagogin Hirsch.

„Ich bin sehr dankbar für diesen Ort“, betont Irina. Was in ihr vorgehe, wenn sie die Bilder vom Krieg in der Heimat sieht? Der Ukrainerin schießen sofort die Tränen in die Augen. „Wir machen uns Sorgen, möchten, dass das alles schnell vorbei geht“, sagt sie weinend. Die Familie will so schnell wie möglich nach Hause zurück. Gemäß einem Spruch aus der Ukraine: „Als Gast ist es schön, aber zu Hause ist es besser.“

DK