Ingolstadt
Die Klagen nehmen kein Ende

Im Abgas-Skandal von Audi und VW wird das Ingolstädter Landgericht von weiteren Fällen überrollt - Erster Termin für "MyRight"

28.02.2020 | Stand 02.12.2020, 11:51 Uhr
Die Aktenberge sind kaum zu überblicken, die ich in der Geschäftsstelle des Landgerichts stapeln. In der großen Mehrheit handelt es sich um Diesel-Verfahren. Alleine im Dezember 2019 sind 766 Fälle eingegangen, heuer in den ersten beiden Monaten um die 400. Diese Zahlen sind für die Mitarbeiter und Richter nicht mehr vernünftig zu bewältigen. Schon jetzt fehlen jede Menge Stellen. −Foto: Rehberger

Ingolstadt - Der Dezember 2019 hätte die große Zäsur sein sollen.

 

Dachten alle. Nach drei Jahren hätte sich das wilde juristische Meer, auf dem seit Bekanntwerden des Abgas-Skandals bei VW und Audi eine Klagewelle von wütenden Dieselkäufern nach der anderen heranrollte, mit dem Jahreswechsel wieder beruhigen sollen. Doch daraus wird nun nichts. "Unsere Hoffnung, dass mit der angenommenen Verjährung der Fälle mit den fast schon berühmten Typ EA 189-Motoren eine deutliche Entspannung eintritt, haben sich nicht erfüllt", sagt Heike Linz-Höhne, die Sprecherin des Ingolstädter Landgerichts. Diese Fälle haben im Dezember vor der Verjährungsfrist für einen Eingangsrekord am Landgericht gesorgt: 766 Verfahren kamen allein in dem Monat rein - "das war in früheren Zeiten die Hälfte eines ganzen Jahres", betont Linz-Höhne den Umfang der Arbeit, mit dem sich die Behörde (weiter) konfrontiert sieht.

Schon jetzt sind alle Richter und Beschäftigten mehr als am Anschlag. Statistisch würde, so ist im Haus zu hören, ein Dutzend Richter fehlen. Für den Sommer sind vom Justizministerium drei Stellen für Ingolstadt angekündigt - eine ganze Kammer. Immerhin.

Aber ein Abebben ist eben nicht in Sicht. "Die Klage-Welle rollt! ", sagt Linz-Höhne. In den ersten beiden Monaten dieses Jahres seien es alleine schon wieder um die 400 Zivilverfahren, die verzeichnet werden - der Großteil Abgas-Skandal VW/Audi, "und dabei ganz wenig Seat und Skoda darunter".

Was nun kommt, ist nicht mehr Typ EA 189, sondern VW-/Audi-Motoren aus dem Drei-Liter-Segment. Die Stichworte, welche die Zivilkammern und die Richter umtreiben, sind: AdBlue-Einspritzung und Thermofenster. In welchem Temperaturbereich schaltet die Abgasreinigung ab - oder eben nicht? Wann ist ein Thermofenster sogar zum Schutz da? Da müssen sich alle Richter ganz neu einarbeiten. "Wir werden zu Motorenkennern", sagt Linz-Höhne, die mit den Fällen beschäftigt ist. Für Expertisen stehen Sachverständige zur Verfügung. Das aber verdeutlicht, wie lange alles dauert. Beim Typ EA189 stand ein Grundgerüst mit angeordneten Fahrzeugrückrufen durch das Kraftfahrtbundesamt (KBA) und Software-Updates. Und bei EA189 seien im Kern alle Motoren gleich gewesen, so Linz-Höhne. Jetzt werde man mit der Bandbreite an Antrieben konfrontiert. Das Prüfschema sei komplex und kompliziert.

Zu den "neuen" Drei-Liter-Motoren seien erste Entscheidungen am Landgericht gefallen - auch in unterschiedliche Richtungen, so die Gerichtssprecherin. Es komme auch zentral auf den Vortrag der Klagenden an.

Das betrifft immer den Kern der Verfahren, die ja auf einen Betrug beziehungsweise eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung durch den Autohersteller abzielen. Ob dies den Fabrikanten tatsächlich beim Motor EA 189 wirklich anzulasten ist, dazu will sich der Bundesgerichtshof (BGH) übrigens Anfang Mai höchstrichterlich äußern.

 

Und auch, wenn eine Verjährung nach den gesetzlichen Vorgaben nach drei Jahren eingetreten sein dürfte, kann ein Käufer nach Gerichtsmeinung vorher den Anspruch verlieren: Wer von dem Diesel-Skandal wusste - und spätestens 2016 waren alle Zeitungen voll damit - und dann noch einen betroffenen Wagen erwirbt, der könne wohl kaum noch getäuscht worden sein.

So kommt auch die Frist des 31. Dezember 2015 als Stichtag in den am Freitag überraschend verkündeten Vergleich, den Volkswagen mit dem Verbraucherzentralen Bundesverband in der Musterfeststellungsklage erzielt hat, die mit großer medialer Begleitung am Oberlandesgericht Braunschweig geführt worden war. An rund 260000 Dieselkunden zahlt Volkswagen nun doch - 830 Millionen Euro sollen es sein. Auch am Ingolstädter Landgericht ist seit Oktober 2018 ein (im Vergleich kleines, aber für die Dimension der Behörde dennoch gigantisches) Diesel-Verfahren gegen VW und Audi anhängig, das sich unter einem einzigen Aktenzeichen verbirgt und 2800 Einzelfälle umfasst. Hier geht es um die Sammelklage des "Rechtsdienstleisters" MyRight, der im eigenen Namen klagte, nachdem die mutmaßlichen Abgas-Geschädigten ihre Rechte an ihn abgetreten haben (und im Erfolgsfall 35 Prozent des erstrittenen Erlöses abgeben).

Dieses Verfahren ist beispiellos, da das deutsche Recht eine Sammelklage eigentlich nicht kennt. Allerdings hat das Landgericht Braunschweig in dem parallelen Verfahren von MyRight gegen VW am Wolfsburger Stammsitz inzwischen die Parteien darüber informiert, dass es die dortige Klage zulassen werde und das Geschäftsmodell des Dienstleisters billigt.

Denn im Herbst hatte es zu der Branche ein Grundsatzurteil des BGH gegeben, das die als Inkassounternehmen agierende Legal-Tech-Plattform "wenigermiete. de" bewertete - und für rechtlich in Ordnung hält.

Der Weg dürfte somit für das Ingolstädter Landgericht geebnet sein, das sich mit MyRight nun intensiv beschäftigt. Im späten Frühjahr, so Gerichtssprecherin Linz-Höhne, habe die Kammer einen Termin für eine erste mündliche Verhandlung bestimmt. Darin wird es aber ausschließlich um die "Aktivlegitimation" gehen - also ob der Vertrag zwischen den Dieselbesitzern und MyRight jeweils korrekt und die Abtretung wirksam ist. "Prüfungen der Ansprüche der nur noch als Zeugen auftretenden Fahrzeugeigentümer erfolgen gegebenenfalls später", so Linz-Höhne. Wie das bei 2800 Betroffenen ablaufen soll, ist eine andere Frage. Aber vielleicht geht es - siehe jetzt Volkswagen - doch ganz schnell.

DK