Ingolstadt
Die eigene kleine heile Welt

Das Schwarzachhaus in Kinding zeigt, wie individuelle Pflege funktionieren kann: Mithilfe guter Rhetorik und einiger Tricks

18.09.2018 | Stand 23.09.2023, 4:07 Uhr
Hier ist alles etwas anders: Das Mittagessen hat zum Beispiel eine Ehrenamtliche gekocht. Das alles machen Brita und Jörg Wellnitz (3. und 4. v, l.), damit die Demenzkranken einen schönen Lebensabend verbringen - eben in ihrem ganz eigenen Reich. −Foto: Schmidt

Ingolstadt/Kinding (DK) Neben der Zimmertür eines Bewohners im Schwarzachhaus "Robert Bezwald" hängt ein Geweih, darunter ein Jägerabzeichen. Auf der anderen Seite des Türrahmens hat jemand ein Foto des Mannes aufgehängt, direkt neben einer großen Zimmernummer, die dem Herrn dabei helfen soll, sein kleines Reich jederzeit wiederzufinden. Die Nachbarin des Mannes hat eine alte Türglocke im Flur hängen - um sich wie zu Hause zu fühlen, aber auch, um zurecht zu kommen, wenn die Orientierung nachlässt.

Denn im Schwarzachhaus in Kinding im Landkreis Eichstätt ist eine etwas andere Wohngemeinschaft entstanden. Die meisten der acht Mitbewohner sind demenzkrank. Für sie wird die vermeintliche Normalität und der Alltag des Lebens vor der Krankheit aufrecht erhalten. Auch, wenn die Helfer und Pfleger dafür viel Geduld und auch so manche psychologische Kniffe anwenden - bis das Leben zu Ende geht.

Dass auch in jedem Zimmer der Bewohner ein "Stückchen von einem selbst" stecken soll, wie Mitbegründerin Brita Wellnitz beim Rundgang sagt, ist auf den ersten Blick sichtbar. Die Möbel durften die Bewohner von zu Hause mitbringen, und so sind die Zimmer des Neubaus vollgestellt mit rustikalen Eichenschrankwänden und alten Lesesesseln. Nichts erinnert an ein Pflegeheim. Das ist bewusst so geplant: keine Handläufe an der Wand, keine sichtbaren Desinfektionsspender, keine Medizinschränke. Dafür Puppen und Teddybären auf Kommoden mit Spitzendeckchen, eine Sitzecke aus einem ehemaligen Wohnzimmer einer Bewohnerin und überall an der Wand gerahmte Bilder. Sie zeigen alle, die den Senioren helfen, trotz ihrer Krankheit einen schönen Lebensabend zu verbringen - haupt- und ehrenamtlich.

Eine von ihnen ist die ambulante Pflegekraft, die an diesem späten Vormittag gerade die Runde durch die Zimmer macht, um noch nach den letzten Langschläfern zu sehen. Dass sie keinen Kittel, sondern Alltagskleidung trägt, ist ebenfalls Teil des Konzepts. Es soll die Mieter, wie sie hier genannt werden, nichts an Krankheit erinnern. Bei einer Bewohnerin hat die Schwester noch keinen Erfolg, ihr Schnarchen ist bis in den Flur zu hören. Sie ist auch nicht von dem Stimmengewirr geweckt worden, das aus der Wohnküche kommt. Während eine der vielen ehrenamlichen Helferinnen des Hauses - eine sogenannte Alltagsbegleiterin - dort schon Kartoffeln, Leberkäse und Spiegelei fürs Mittagessen zubereitet, sitzen die anderen Bewohner um einen großen Tisch zusammen, aus dem Radio kommt Volksmusik. Eine Frau liest Zeitung, ein Mann sitzt noch vor seinem Marmeladenbrot. Jeder darf hier nach seinem Rhythmus wach werden. Erst ab Mittag hat der Tag Struktur.

Struktur, das heißt hier rätseln, singen, gemeinsam essen. Jeder, wie gut er - noch - kann. Die Bewohner sind dazu angehalten, mitzukochen, sich mal selbst einen Jogurt aus dem Kühlschrank zu nehmen und Geschirr abzuspülen. Anders als in einem klassischen Pflegeheim, wo die Menschen mit der Küche meist nicht mehr in Kontakt kommen. Abspülen würden die Leute laut Wellnitz "bis zum Schluss" - weil sie es von zu Hause so kennen. Die Geschirrspülmaschine werde nicht viel genutzt.

Und auch, wenn mal etwas schief-, daneben- oder kaputt geht und der Kaffee im Teller statt in der Tasse landet: Eine der obersten Regeln im Umgang mit den Demenzkranken ist laut Wellnitz, keine Vorwürfe zu machen. "Wir loben viel", erklärt sie, "das trägt zum Wohlfühlgefühl bei. Plötzlich machen die Leute wieder etwas richtig. Zu Hause wurden sie oft unter Druck gesetzt, wenn sie zum Beispiel die Schlüssel verloren haben." Das ist auch der Grund, wieso das Haus mit offenen Türen und ganz ohne Zaun funktioniert, ohne dass einer abhauen würde. Wer sich wohlfühle, laufe nicht weg, so Wellnitz.

Auf die Welt der Demenzkranken einzugehen, sei eine der wichtigsten Punkte. "Ein Beispiel: Eine Bewohnerin geht in den Garten, pflückt einen Blumenstrauß und stellt ihn in eine Vase. Das wiederholt sie ein, zwei oder fünf mal. Es hilft nichts, wenn ich die Frau damit konfrontiere, dass da schon fünf Sträuße stehen, das hat sie längst vergessen. Im Gegenteil, sie fühlt sich angegriffen und geht mich vielleicht verbal an. Stattdessen setzte ich mich mit ihr hin und rede mit ihr darüber, wieso sie das tut. Wenn ich Glück habe, dann ersetzt das Reden über die Blumen den Drang, sie zu zupfen", erzählt Wellnitz.

Aus diesem Gedanken heraus seien auch die sogenannten Mastersätze entstanden, wie Wellnitz sagt. Als Beispiel nennt sie eine Bewohnerin, die jeden Abend beschloss, nach Hause zu gehen. Nach etwa 20 vergeblichen Versuchen fand das Pflegepersonal endlich einen Satz, der die Frau beruhigte: "Deine Tochter hat diese Nacht schon bezahlt." Das funktionierte. Eine andere Dame weigerte sich strickt, sich zu waschen. Da stellte die Hausärztin ein Rezept aus, auf dem sie schlicht "Duschen" vermerkte. Das wirkte. "Manchmal müssen wir mit Dingen wie Obrigkeitshörigkeit tricksen", sagt Wellnitz. Nicht, um die Menschen ruhig zu stellen, sondern um sie nicht emotional aus ihrer Welt herauszureißen. Dafür wäre in einigen der anderen Pflegeheime allerdings keine Zeit, erklärt Wellnitz` Ehemann Jörg, der mit ihr das Heim gegründet hat. Im Extremfall würde die Dame, die nicht duschen wollte, dort dann vielleicht dazu gezwungen oder mit Medikamenten ruhig gestellt.

Ein Stück weiter im Flur hängt wieder eine Galerie mit Bildern. Dort haben all jene einen Platz gefunden, die im Schwarzachhaus gestorben sind. Ob es nicht schwer sei, sich von Menschen in einer so kleinen Gemeinschaft zu verabschieden? "Nein, denn hier wird der Sterbeprozess akzeptiert", meint Brita Wellnitz entspannt. Man kommuniziere offen, wer vor dem Ende seines Lebens stehe und bei wem es Zeit sei, sich zu verabschieden. Die Mitbewohner würden dann oft noch ans Bett kommen, um Lebewohl zu sagen - auch, nachdem der Mensch schon tot sei. "Im Laufe seiner Krankheit wird ein demenzkranker Mensch irgendwann die Fähigkeit verlieren, zu gehen und zu sprechen. So jemand darf in unserem Haus dann auch sterben", sagt Wellnitz.

An der Wand hängt - zwischen den Portraits der früheren Bewohner - auch ein Bild einer Katze, die einst im Heim lebte. "Wir nehmen immer die Senioren-Katzen, aus dem Tierheim, die vom Gemüt zu den Menschen hier passen", erklärt Wellnitz. Mittlerweile lebt wieder ein grauer Kater im Haus, der gerade durchs Wonzimmer streicht - offensichtlich sehr zum Gefallen der Bewohner.
 

Auch in Ingolstadt - Zwei Wohneinheiten übernommen

Seit Juli 2011 gibt es das Schwarzachhaus "Robert Betzwald" in Kinding im Landkreis Eichstätt.

Der Förderverein Lebensring stellt den ambulanten Pflegedienst. Der Umfang der Pflege wird individuell geplant - im Haus können Menschen jedes Pflegegrades einziehen. Die sogenannten Alltagsbegleiter - ehrenamtliche Helfer - sind rund um die Uhr vor Ort. Tagsüber sorgt zusätzlich Pflegepersonal für die Menschen. Das Schwarzachhaus soll - nachdem es bereits einen Ableger in Obermässing gibt - nur auch als Vorbild für zwei Demenz-Wohngemeinschaften in Ingolstadt dienen, die der Träger im Sommer übernommen hat. Während Gründer Jörg Wellnitz sich in Eichstätt über die Unterstützung der Politik freut - das Projekt bekam schon den Ehrenamtspreis des Landkreises - ist er in Ingolstadt auf weniger offene Ohren gestoßen: "Ingolstadt tut sich sehr schwer damit. "

Sophie Schmidt