Ingolstadt
Die Sicht der anderen

Auch die Parteien ohne Stichwahl-Kandidaten beobachten den Wahlausgang gespannt - große Freude bei Scharpf-Unterstützern

29.03.2020 | Stand 23.09.2023, 11:24 Uhr
Mit dieser Sitzverteilung muss der neu gewählte Oberbürgermeister Christian Scharpf (SPD) in der neuen Wahlperiode arbeiten. Klare Mehrheiten sind nicht in Sicht. −Foto: Wahlamt

Ingolstadt - Weil an diesem Wahlabend wegen des Coronavirus keine öffentliche Veranstaltung im Neuen Rathaus stattfinden kann, verfolgen Vertreter aller politischen Lager die Auszählung der OB-Stichwahl auf dem Handy oder dem Computerbildschirm.

 

Eine Videokonferenz des Sechsparteienbündnisses (SPD, Grüne, Linke, UDI, BGI, ÖDP), das Christian Scharpf in der Stichwahl unterstützt, ist schon ausgemacht, als sein eindeutiger Sieg noch gar nicht feststeht. Einige nutzen die Schalte schließlich, um mit einem Glas - zumindest virtuell - mit dem Sieger anzustoßen. Die Freude der Wahlsieger und das Bedauern der Verlierer mischt sich an diesem Abend mit einer Menge Hoffnungen auf die Zukunft und der Gewissheit, dass das politische Agieren im bereits vor zwei Wochen gewählten Stadtrat schwierig werden könnte. Christian Scharpf wird sich ab Mai mit elf Parteien und Gruppierungen auseinanderzusetzen haben.

GRÜNE

Der letzte Stimmbezirk ist noch nicht ausgezählt, da gehen die Grünen schon in die erste Video-Konferenz. "Wir haben hohe Erwartungen an die neue Stadtspitze und sind bereits in Arbeitsstimmung", erklärt Fraktionsvorsitzende Petra Kleine. Und: "Wir haben große Lust, Verantwortung zu übernehmen. " Sie freut sich auch über die hohe Wahlbeteiligung. "Die zeigt, dass der Wunsch nach einem politischen Wechsel auf einer breiten Basis steht. " Kleine hat auch ein Wort für den unterlegenen Christian Lösel: "Er hat sich in der Niederlage wirklich korrekt verhalten. Das ist nicht selbstverständlich. " Eventuell sei hier schon zu erkennen, dass der erhoffte "Klimawandel" im Stadtrat wirklich vollzogen wird. Grundsätzlich sei dieser "Erdrutschsieg Scharpfs" natürlich "historisch für Ingolstadt".

FREIE WÄHLER"Diese Klatsche hat Christian Lösel nicht verdient. " Hans Stachel (FW) glaubt, dass die Schuld für die krachende Niederlage eher bei anderen in der CSU zu suchen sei. "Aber er stand nun einmal zur Wahl." Vielleicht, so überlegt der FW-Fraktionschef, helfe Lösel "seine ratinoale Art", diese Niederlage zu verarbeiten. "Eventuell ist es für ihn sogar besser, dass das Ergebnis so deutlich ist. " Wirklich überraschen konnte das gestrige Votum Stachel nicht mehr. "Das Wahlergebnis vor zwei Wochen war schon denkwürdig. Da hat sich das heutige ja schon abgezeichnet. " Auch wenn die FW in den vergangenen sechs Jahren "gut und vertrauensvoll" mit Lösel und der CSU zusammengearbeitet haben, könne er sich auch eine Kooperation mit Scharpf vorstellen, so Stachel. Diese Offenheit sei nunmal das "ureigene Merkmal" der Freien Wähler. Deswegen habe es auch keine Wahlempfehlung bei der OB-Stichwahl gegeben. "Es gibt deswegen in unseren Reihen auch solche, die sich über das Ergebnis freuen und andere, die ganz schön zu beißen haben. " Die Freien Wähler wollten jedenfalls etwas bewegen in der Stadt. "Und das geht mit jemandem immer leichter als gegen jemanden. "

AFD

Überrascht von der Deutlichkeit des Wahlausgangs gibt sich auch Stadtrat Ulrich Bannert (AfD). "Ich hätte eher ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet. " Die Entscheidung, keine Wahlempfehlung für Lösel auszusprechen, sei dennoch die richtige gewesen. "Wir haben nur darauf hingewiesen, das Scharpf für uns nicht wählbar ist. Aber, wen die Bürger zu wählen haben, wollen wir ihnen nicht vorschreiben. " Er sei nun gespannt, wie sich die Zusammenarbeit im neuen Stadtrat entwickelt. Bannert - seit 1990 Gremiumsmitglied - sei als Vertreter der Republikaner und später der AfD von den CSU-Oberbürgermeistern Peter Schnell, Alfred Lehmann und Christian Lösel stets "anständig, fair und sachlich behandelt worden". Nun gelte es abzuwarten, wie sich Scharpf gebe. Die AfD jedenfalls werde im Stadtrat konstruktiv mitarbeiten, betont Bannert. "Wir sind nicht die Thüringer und nicht die Berliner AfD. Wir sind in Ingolstadt. "

BGI

In Gerolfing freut sich Christian Lange (BGI) über die Wahl von Christian Scharpf zum neuen OB. "Ich habe schon auf ein klares Ergebnis gehofft, aber dass es so deutlich wird, das habe ich nicht zu träumen gewagt", sagt er. Das Ergebnis sei nicht nur ein klares Votum gegen Lösel und CSU, sondern auch ein deutliches für Scharpf, ist sich Lange sicher. "Er hat als Kandidat überzeugt. " Die SPD habe einen engagierten Wahlkampf gemacht, sei viel in den Ortsteilen unterwegs gewesen, das habe sich am Ende ausgezahlt. Selbst im eher konservativ geprägten Stimmbezirk West habe Scharpf über 60 Prozent erreicht. "Das ist phänomenal", freut sich Lange.

UDI

Sepp Mißlbeck geht im Großen Sitzungssaal im Neuen Rathaus auf und ab. Er ist einer der wenigen, der wegen seines Amts als Dritter Bürgermeister am Wahlabend dort sein darf, wo sonst der Stadtrat tagt. Immer wieder geht der Blick ungläubig auf die Leinwand, auf die die Ergebnisse projiziert werden. Das Ergebnis sei "bemerkenswert", sagt Mißlbeck, der auch dem neuen Stadtrat angehören wird. Es ist seine sechste Wahl in das Gremium. Das Ergebnis der CSU mache schon sehr nachdenklich - "in dieser Differenz". Christian Lösel sei "ein Mann der Zukunft" gewesen - Flugtaxis und Künstliche Intelligenz seien etwa seine Themen. "Aber es war immer für die nächste Generation. " Mißlbeck mutmaßt: "Vielleicht hat er vergessen, dass er in der Gegenwart ist. " Das sei nicht von den Bürgern angenommen worden. Für Christian Scharpf sieht Mißlbeck einen großen Vertrauensvorschuss, dem ihm Wähler und andere Parteien durch ihre Unterstützung gegeben haben. "An der wird er nun gemessen", sagt Mißlbeck. "Er muss beweisen, dass er die Hand jetzt ausstreckt". Scharpf habe stets mit dem Begriff "miteinander" geworben; nach der Wahl am 15. März ist er auf andere Parteien zugegangen und hat ein Bündnis gegen Lösel geschmiedet, dem auch Mißl-becks UDI angehört. Die UDI hatte sich kürzlich mit der BGI zu einer Ausschussgemeinschaft zusammengeschlossen und bei der Stichwahl Scharpf unterstützt.

LINKE

Christian Pauling freut sich sehr über das Ergebnis. Auch die Ingolstädter Linken hatten sich dem Mehrparteienbündnis, das sich hinter Scharpf gestellt hatte, angeschlossen. Zuletzt sei ihm etwas bange geworden, ob es für Scharpf reichen würde, sagt Pauling: "Das Framing mit den ?Keine-Experimente'-Plakaten und zusätzliche Unsicherheit durch die Briefwahl - da hatte ich Muffensausen. " Die Deutlichkeit des SPD-Siegs freue ihn sehr. Es stimme ihn froh, dass der Wähler gezeigt habe, dass die CSU nicht mit Angstmacherei durchkomme. Auch der 29-Jährige sieht einen "immensen Vertrauensvorschuss", den Scharpf mit auf den Weg bekommen hat. "Das konnte Lösel gar nicht einholen. " Pauling sieht in dem Ergebnis einen historischen Sieg für die Oppositionsparteien. "Wir stellen sicher, dass Scharpf hält, was er verspricht. " Wie eine Drohung soll das allerdings nicht klingen, sagt Pauling.

JUNGE UNION

Die Spitzenkandidaten der Jungen Liste hatten Christian Lösel allesamt die Daumen gedrückt und das auch kundgetan, eine offizielle Unterstützung der Gruppierung gab es jedoch nicht. Noch-CSU-Stadtrat Markus Meyer tut es "persönlich leid", dass Christian Lösel die Wahl verloren hat. Es habe ein starker Wechselwille geherrscht. "Das Ergebnis ist in der Deutlichkeit sehr überraschend", sagt Meyer. "Christian Lösel hat gerackert und mit Kraft viele Themen nach vorne geschoben. " Beeinflusst sei das Ergebnis von "Geistern der Vergangenheit", sagt Meyer. Dazu gehören auch Dinge, die nicht auf seine Person zurückfallen: Die Causa Lehmann und die Affäre Haderthauer nennt Meyer. Dazu: "innerparteiliche Sachen, die die Basis von der Spitze entfernt haben". Die CSU brauche jetzt einen Erneuerungsprozess, der sich hinziehen wird. Die Junge Union gratuliere Christian Scharpf, der sich bislang laut Meyer noch nicht wegen einer Zusammenarbeit gemeldet hat.

FDP

Sie hatten vor der Wahl keine Wahlempfehlung abgeben. Das habe die Mitgliederversammlung bestimmt, sagt FDP-Kreisvorsitzender und neuer Stadtrat Jakob Schäuble. Er sieht Ingolstadt vor großen Herausforderungen. "Wir brauchen jetzt alle demokratischen Kräfte. " Die FDP freue sich nun darauf, im Stadtrat anzupacken. Scharpfs Sieg nennt Schäuble beeindruckend. "Die Erwartungen an Christian Scharpf sind sehr hoch", sagt Schäuble. "Ich gehe davon aus, dass er das vorher wusste. " Der Wähler habe ein ganz klares Wechselsignal gegeben. Auch die FDP habe bereits mit Scharpf gesprochen, um Posten sei es jedoch nicht gegangen, sondern wie man zusammenarbeiten könne. "Wir stehen immer für sachorientierte Politik. " In der kommenden Woche werde es Gespräche geben - nicht nur mit Scharpf, betont Schäuble.

ÖDP

"Ich habe gehofft, dass das Ergebnis klar ausfällt, mit dieser Deutlichkeit habe ich aber nicht gerechnet", sagt Raimund Köstler (ÖDP). Vor allem hoffe er unter dem neuen OB Christian Scharpf "auf ein besseres Miteinander" im Stadtrat. Die allgemeine Diskussion, die Art und Weise der Zusammenarbeit könne sich nun verbessern. "Das ist das Thema, das auch mir als OB-Kandidat am wichtigsten war. " Für Christian Lösel sei diese Niederlage "sicherlich hart, aber es hat sich abgezeichnet. " Köstler ist allerdings auch wichtig zu betonen, Lösel habe "sich immer sehr für Ingolstadt eingesetzt. Er hat hart gearbeitet und dabei auch viele Dinge richtig gemacht."

DK

 

Julian Bird, Johannes Hauser