Ingolstadt
Die Furcht, lebendig begraben zu werden

Sonderausstellung "Scheintot" im Deutschen Medizinhistorischen Museum eröffnet

16.10.2019 | Stand 23.09.2023, 9:01 Uhr
  −Foto: Hammerl

Ingolstadt (DK) Lebendig begraben - kein schöner Gedanke, aber heutzutage doch eher hypothetisch.

In der Mitte des 18. Jahrhunderts schien er sehr real zu sein, jedenfalls in Deutschland. Dem Grenzbereich zwischen Leben und Tod spürt die neue Sonderausstellung im Medizinhistorischen Museum nach. "Scheintot - über die Ungewissheit des Todes und die Angst, lebendig begraben zu werden", lautet der Titel der Ausstellung, die auf spannende Weise erzählt, wie Schauergeschichten um Scheintote sich Mitte des 18. Jahrhunderts europaweit ausbreiteten, vielfach (wieder)erzählt wurden und die Wissenschaft herausforderten, die Grenze zwischen Leben und Tod klarer zu definieren. Damals war es oft Pfarrer oder Seelennonne, die den Tod feststellten, also medizinische Laien. Ihre Hilfsmittel waren denkbar einfach und vor allem unsicher. Federn oder ein Spiegel wurden dem (Schein)toten in der Hoffnung auf einen Atemhauch vor Mund und Nase gehalten, was die Federn durch Bewegung, der Spiegel durch Anlaufen verraten sollte. Ein Wasserglas dem Toten auf den Bauch gestellt, hätte durch Schwingen des Wasserspiegels ebenfalls noch vorhandene Atmung angezeigt. Den Beginn der fast schon hysterisch anmutenden Scheintodangst markierte Jacques-Jean Bruhier d'Ablaincourt. Als "mittelmäßigen Anatom", beschreibt ihn Kuratorin Uta Bieger. Der Franzose veröffentlichte 1742 ein Buch mit 400 Seiten, für das er eine 40 Seiten starke dänische Doktorarbeit mit allerlei Geschichten über Scheintote ergänzt hatte. Sein Fazit lautete, die Anzeichen des Todes seien unsicher, allein die Fäulnis zeige den sicheren Tod an. "Ich finde es hochinteressant, dass er nicht nur mit Geschichten, sondern auch naturwissenschaftlich argumentierte", sagt Museumsdirektorin Marion Ruisinger und verweist auf Kröte, Zugvogel und Schmetterlingspuppe, die Bruhier d'Ablaincourts Argumente veranschaulichen - als Beispiele für unbewegliche Stadien in der Tierwelt, die wieder zum Leben erwachen. Der Zug der Vögel war noch nicht erforscht. "Man sah nur, dass sie plötzlich verschwunden waren", erklärt Ruisinger.

Fünf teils horrorhafte Beispiele für Scheintote lässt die Ausstellung an einer Audiostation höchst lebendig werden, darunter ein Student aus Ingolstadt, der 1791 wegen völliger Starrheit für tot erklärt worden war, aber durch eiskaltes Weihwasser, das in seinem Schlund einen starken Reiz auslöste, aus seiner Starre erwachte. Ein solch gutes Ende war der Jungfer aus Augsburg nicht beschieden, deren Leiche nicht mehr im Sarg, sondern an der Grufttür gefunden wurde - allerdings erst Jahre später, als das nächste Familienmitglied in der Gruft begraben wurde. Solche Geschichte beflügelten die Angst der Menschen, lebendig begraben zu werden und wirkten auch auf Kirche und Politik. Die Aufklärung hatte das Leben nach dem Tod infrage gestellt, nun galt es, eine wissenschaftliche Basis zu finden. Statt des Pfarrers war nun der Arzt zuständig, den Tod festzustellen. Christoph Wilhelm Hufeland, königlicher Leibarzt und leitender Arzt der Charité, besaß genügend politischen Einfluss, um mit der Überzeugung, nur die Fäulnis sei ein sicheres Todeszeichen, gehört zu werden. Er setzte beim Herzog von Sachsen durch, dass in Weimar 1792 das erste Leichenhaus gebaut wurde, um Tote drei Tage lang aufzubahren - mit Totenwächter. Ein Jahr früher war München dran, allerdings wurde hier nicht eigens gebaut, sondern das bestehende Beinhaus als Leichenhaus genutzt. Wächter wurden eingesetzt, Glöckchen auf Friedhöfen installiert, die mittels Schnur mit dem Sarg verbunden waren, damit der (Schein)tote um Hilfe läuten konnte, abenteuerliche Patente auf Sicherheitssärge angemeldet oder der Tote über komplizierte Konstruktionen mit der Kirchenglocke verbunden. "Wir sind die ersten, die so einen Sarg tatsächlich bauen ließen", kommentiert Kurator Raik Evert die kleinen Modelle.

Die Menschen des 19. Jahrhunderts ließen sich noch mehr einfallen - von mit Tabakklistieren über Skalpelle, Schröpfköpfe, Trepanationsbesteck, Elektrisiermaschinen bis zum Siegellack, der ins Auge geträufelt wurde, wurde alles verwendet, was die Medizin kannte, um einen möglichst großen Reiz zu setzen und den Scheintoten wieder zu erwecken. Martialisch die Herzstichmesser, die auf testamentarischen Wunsch hin von Ärzten genutzt wurden, um den Tod endgültig sicher zu stellen.

Die überbordende Scheintod-Debatte hatte aber auch ihr Gutes - sie markiert den Beginn der modernen Rettungsmedizin. Bis heute müssen Leichenkühlhäuser mit einer fluoreszierenden Notentriegelung versehen sein. Von innen wohlgemerkt. Was heute dem Arbeitsschutz dient, aber auch einem Scheintoten ermöglichen könnte, den rettenden Ausgang zu finden

Andrea Hammerl