Der Wille zur Verinnerlichung

Katinka von Richter gibt beim Konzertverein Ingolstadt einen virtuosen Klavierabend

27.09.2020 | Stand 23.09.2023, 14:24 Uhr
Jeder Ton eine andere Klangfarbe: Katinka von Richter im Festsaal Ingolstadt. −Foto: Schaffer

Ingolstadt - Die Pianistin Katinka von Richter kommt in einem langen, kostümhaft wallenden Kleid auf die Bühne - und spielt nicht.

 

Vielmehr zieht sie eine Maske auf, beugt sich herab und zieht eine Art magischen Kreidekreis um sich. Dann steht sie, theatralisch, fast wie eine Puppe und referiert einen Text: "Dumpf ist die Luft um uns. Unter einer schweren Glocke verdorbener Dünste liegt erschlafft das alte Europa. Ein Materialismus ohne Größe lastet auf dem Denken. "

Irritation im Publikum. Nein, der Text bezieht sich nicht auf die Gegenwart, er wurde vor über 100 Jahren von Romain Rolland geschrieben, es sind die ersten Zeilen seines Buchs über Ludwig van Beethoven. Geschickt leitet die Pianistin über zu dem Bonner Genie und seinen zwei Jahre vor seinem Tod veröffentlichten Bagatellen op. 126. Die Stücke würden zwei konträre Prinzipien vereinigen, sagt Katinka von Richter: strenge Klassik und bereits romantische Improvisation. Mit einem großen Schritt, als würde sie ein Hindernis übersteigen, tritt sie aus dem Kreidekreis, nimmt die Maske ab und schlägt die Tasten an.

Aber weniger der Gegensatz von freier Form und strikter Architektonik prägt ihr Spiel - als der Wille zur Verinnerlichung. Einfache, wiegende, introvertiert schöne Melodien hat Beethoven in seinem letzten Werk für Klavier geschrieben. Aber von Richter denkt die Melancholie mit, die aus diesen Tönen spricht, das Gebrochene, das Suchende, das Unerwartete. Keine melodische Wendung ist einfach nur das, was sie ist. Mit hineingesponnen ist ein Abgrund, der alles Schlichte zu bloßem Schein erklärt. So findet Katinka von Richter fast für jeden Ton eine andere Klangfarbe, die Musik schreitet oft mühselig voran, als wenn sie irgendwann einfach in Schönheit erstarren wollte. Für die junge, in Paris lebende Pianistin stellt das ein ständiger Konflikt dar zwischen Schlichtheit der Melodik und höchstem expressiven Ausdruck. Und sie findet diesen Mittelweg, der immer jenseits von allem Manierismus, von Geziertheit und Oberflächlichkeit steht: absolute Gänsehautmusik, selbst dann, wenn es mal ungestüm und rabiat wird.

Vielleicht ist dieser erste Teil ihres langen Klavierabends, in dem von Richter so viel Kontrolle über die Tongebung zeigt, der eigentliche Höhepunkt. Aber Katinka von Richter ist eine vielseitige Begabung. Als nächstes stehen die beiden letzten Balladen von Frédéric Chopin auf dem Programm, Werke, die sie mit weichem Schönklang formt. Besonders in der f-Moll-Ballade kann sie erstmals an diesem Abend völlig entfesseltes Klavierspiel zeigen. Im Schlussteil, der Coda, ballen sich Oktaven, Terz- und Sextläufe, und Katinka von Richter lässt den Flügel schier explodieren.

Virtuos geht es weiter mit Claude Debussys Prelude "Ce qu'a vu le vent d'ouest", ein pianistisches Sturmgebläse voller irrlichternder, sprudelnder Läufe, die Katinka von Richter sehr kraftvoll darstellt.

Dazwischen schiebt die junge Pianistin immer wieder Erläuterungen, Zitate der Komponisten und macht damit ihren Klavierabend zu einer wundersamen, einzigartigen Performance. Sie geht neue Wege, das Konzept des Klavierrecitals zu erweitern, und es ist ein großartiges Erlebnis. Einmal formuliert die junge Pianistin Fragen an Debussy: "Wie übersetzt Klang eine Materialität? "; oder: "Welches Gewicht hat ein Duft? "

Am Ende, vor dem ungeheuer schweren "Islamey" von Mili Balakirev, zieht sie keinen Kreis mehr. Sie nimmt ihre Maske und trägt sie gleichsam zu Grabe. Vorbei ist es mit der puppenhaften Kunstfigur. Allein die Pianistin von Richter steht noch da und gibt ihr Letztes. Vorher, im Interview mit unserer Zeitung hatte sie selbstbewusst behauptet, sie könne zeigen, dass auch Frauen dieses vielleicht schwerste Werk der Klavierliteratur mit Bravour meistern können. In der Tat: Katinka von Richter tobt sich ein letztes Mal aus, wühlt sich durch die höllisch schweren Akkordgebirge und die fernöstliche Notenstürme - und erntet gewaltigen Beifall.

Katinka von Richter lächelt zum ersten Mal an diesem Abend, als wenn eine riesige Last von ihr abfiele. Nach langer Corona-Pause hat sie ihren ersten Klavierabend gegeben, im Doppelpack, zusammen fast drei Stunden Musik. Eine Herkules-Aufgabe; und eine fantastische Leistung.

DK

Jesko Schulze-Reimpell