Ingolstadt
Der Herr Kammersänger ist unpässlich

Im Goldenen Buch des Konzertvereins werden hundert Jahre Ingolstädter Musikgeschichte lebendig

30.08.2018 | Stand 02.12.2020, 15:46 Uhr
Familienbetrieb: Seit 40 Jahren werden nicht nur die Gastspiele des Konzertvereins im Wesentlichen von hier aus organisiert, sonder auch die Goldenen Bücher geführt. Tochter Eva-Maria mit ihren Eltern Isolde und Rainald Atzerodt in ihrer Wohnung in Haunwöhr. −Foto: Hammer

Ingolstadt (DK) Die seit Jahrzehnten erfolgreichste Konzertagentur Ingolstadts hat ihren Sitz in der Markomannenstraße in Haunwöhr.

Wobei es in der Wohnung der Familie Atzerodt weniger, eigentlich gar nicht darum geht, aus der Organisation von klassischen Konzerten finanziellen Profit zu schlagen. Nein, hier bei Isolde (73) und Rainald Atzerodt (84) herrscht noch immer die pure Begeisterung für alles, was mit dem Musikleben in Ingolstadt, Abteilung Klassik, zu tun hat. Die beiden Atzerodts haben zwar die Leitung des Konzertvereins längst an Tochter Eva-Maria abgegeben, aber sie verwahren bei sich daheim einen Fundus von sechs Goldenen Büchern mit Originaleintragungen der gastierenden Sänger, Dirigenten, Instrumentalisten - und vor allem einen ebenso großen Schatz mit Anekdoten vom Auftritt der Stars.

Für einen Lokalredakteur, der sich seit der Studentenzeit regelmäßig in Konzertsälen und Opernhäusern herumtreibt, ist jeder Nachmittag bei Atzerodts naturgemäß zu kurz. Erschwerend kommt die Vorbelastung des Autors als Autogrammsammler in den sechziger Jahren hinzu. Als Schulbub hat er Dutzende von Briefen mit brav frankiertem Rückkuvert an Berühmtheiten geschrieben wie Franz Beckenbauer und Uwe Seeler, Sepp Herberger und Fritz Walter, Gerd Müller und Hans-Günther Winkler, Rosi Mittermaier und Toni Sailer, aber auch Roy Black und Rex Gildo, Elke Sommer und Heintje. Die Früchte der Sammelwut sind bis heute im Album zu bewundern.

Beim Konzertverein fällt die Ernte natürlich üppiger aus. "Das ist die Hexenküche, da war früher Strickgarn drin", deutet Isolde Atzerodt auf eine Schachtel mit Tuschegläschen und Schreibfedern in verschiedenen Breiten. Die Ehefrau des langjährigen Vorsitzenden ist unter anderem seit 40 Jahren dafür zuständig, das Goldene Buch mit eigener Hand weiterzuführen. "Das erste Konzert, bei dem ich selbst geschrieben habe, war am 28. Oktober 1978 ein Liederabend mit Edith Mathis", erzählt die Schriftführerin. Da trifft es sich gut, dass der Autor die seinerzeit überaus gefragte Schweizer Sopranistin einige Male an der Bayerischen Staatsoper bewundern durfte.

Überhaupt bedarf es an diesem Nachmittag bei Atzerodts keiner großen Einführungsreden. Als Stichwort genügt der Künstlername. Etwa der des Baritons Thomas Quasthoff, den seine Conterganschädigung nicht an einer großen Sängerkarriere hinderte. Nach seinem Liederabend im September 1990 bedankte er sich per Autogramm "für die wunderbare Atmosphäre in diesem herrlichen Saal und hoffentlich bis bald".

Erstaunlich häufig taucht als Leitmotiv in den Eintragungen vieler Künstler das Loblied auf die Akustik des Festsaales auf - was sich die Ingolstädter Theatersanierer gefälligst hinter die Ohren schreiben sollten. "Hier gibt es einen der schönsten neuen Konzertsäle! ", jubelte im Dezember 1978 der Geiger Ulf Hoelscher. Der Oboist Simon Dent vom Consortium Musicum meinte im Juni 1984 nur: "Tolle Akustik! ". Und im März 1986 kamen die Komplimente sogar französisch vom Trompetenensemble Guy Touvron: "Quel plaisir de jouer dans cette salle et devant ce publique! "

Bevor Isolde Atzerodt ab 1978 selbst Hand anlegte, hatte ein Grafiker des DONAUKURIER die Dokumentation der Konzertprogramme übernommen. So fühlte sie sich besonders verpflichtet, mit einer ansprechenden Gestaltung die Tradition fortzusetzen. "Ich brauche eine Stunde für eine Seite, die mit Bleistift vorgeschrieben wird, der Mann muss ausradieren. "

Der immer ehrenamtliche Dienst an der Musikkultur kann aber auch ganz anders aussehen. Als noch zu DDR-Zeiten der Leipziger Thomanerchor an der Donau gastierte, wandte sich dessen Leiter Hans-Joachim Rotzsch mit einem besonderen Anliegen an Isolde Atzerodt: "Ich musste mit ihm einkaufen gehen und die Sachen anprobieren, weil ich die gleiche Kleidergröße wie seine Frau hatte. " Frau Rotzsch war daheim geblieben und hatte den Mann offenbar auch zum Shoppen in den Westen geschickt. Nicht an alle Künstler aus der früheren DDR hat Atzerodt angenehme Erinnerungen. Der Tenor Peter Schreier war weltweit gefragt und einer der wenigen Künstler, die im Westen Devisen einspielen durften. Bei den Organisatoren des Ingolstädter Konzertvereins hat er anscheinend im Mai 1982 bleibende Spuren nicht wegen seines Liederabends, sondern wegen seiner Arroganz hinterlassen. "Der war eingebildet", schildert Isolde Atzerodt seine Begrüßungsworte: "Empfängt mich hier niemand? " Der viel bewunderte Evangelist in den Bach-Passionen und DDR-Star hatte offensichtlich mehr offizielle Ehrerbietung in Ingolstadt erwartet. "Und wer putzt mir hier meine Schuhe? " Die Gastgeberin tat es damals jedenfalls nicht.

In der Regel seien aber, wendet Tochter Eva-Maria ein, gerade "die besten Künstler die einfachsten und anspruchslosesten". Und von der Sorte gab es eine ganze Menge, die im Goldenen Buch verewigt sind - von Nikolaus Harnoncourt, dem Pionier der historischen Aufführungspraxis (1981) bis Bernard Haitink (1980), dem Dirigenten des Concertgebouw-Orchester Amsterdam, und Karl Richter (1978), dem legendären Bach-Interpreten. Nach zweieinhalb Stunden Blättern und Erzählen ist gerade mal einer von sechs Bänden durch. Wie gesagt, solche Nachmittage bei Atzerodts sind viel zu kurz.

Zumal ja der eigentlich historische Teil der Goldenen Bücher noch im Stadtmuseum wartet. Hier lagern die Chroniken und Dokumente des 1917 gegründeten Konzertvereins, mit einigen Lücken in der späten NS-Zeit wie bei vielen anderen Organisationen, aber eben auch Erinnerungen an so bedeutende Interpreten wie die Pianisten Walter Gieseking, Wilhelm Backhaus und Martha Argerich, an Sänger wie Julius Patzak, Peter Pears, Hans Hotter und Erika Köth, an Komponisten wie Hans Pfitzner und Benjamin Britten.

In den ersten Jahren des Vereinslebens klangen auch die Absagen noch ganz anders als heute. "Wegen Unpässlichkeit des Herrn Kammersänger Knothe wird das Konzert auf Montag den 28. abends verschoben", hieß es da. Der Herr Kammersänger trat dann "im Saale des Kasino" auf, heute Spiegelsaal des Kolpinghauses. Und am 29. März 1965 garnierte der österreichische Pianist Rudolf ("Rudi") Buchbinder sein Autogramm mit einer lustigen Zeichnung sowie der Huldigung: "Zum zweiten Mal hier, es war wieder sehr schön. Vielen Dank. Auf Wiedersehen im neuen Saal. " Einige Monate später wurde das neue Stadttheater eröffnet.