Der Aufstand der Massen

Der Ingolstädter Rathaussturm während des Ersten Weltkriegs ging in die Geschichte ein. Heute vor 100 Jahren demonstrierten mehrere Tausend aufgebrachte Menschen am damaligen Gouvernementsplatz gegen Krieg, Hunger und Wohnungsnot. <?ZuVor "8dp"> <DK-Autor> <?ZS> <?ZA> <?ZuVor "-9dp">Von Franz Hofmeier<?ZE></DK-Autor>

21.05.2018 | Stand 23.09.2023, 3:18 Uhr
Unzählige Verwundete wurden im Reservelazarett II am Hauptbahnhof meist nur notdürftig versorgt. Das im Jahr 1914 errichtete Gebäude sollte eigentlich der Reparatur von Dampfloks dienen. Wegen der Vielzahl der verwundeten Soldaten im Ersten Weltkrieg wurde es umfunktioniert. Später war es Teil des Ausbesserungswerks. Im Laufe des Krieges wurden nicht nur Lebensmittel, sondern auch kriegswichtige Rohstoffe wie Metalle immer knapper. Im gesamten Reich hängte man deshalb Glocken ab, um sie einzuschmelzen und daraus wieder Waffen herzustellen. −Foto: Fotos: Hofmeier

Der Ingolstädter Rathaussturm während des Ersten Weltkriegs ging in die Geschichte ein. Heute vor 100 Jahren demonstrierten mehrere Tausend aufgebrachte Menschen am damaligen Gouvernementsplatz gegen Krieg, Hunger und Wohnungsnot.

Nicht nur Thomas Mann, Grandseigneur der Deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, hat die Münchener Novemberrevolution des Jahres 1918 als einen "Faschingsersatz" bezeichnet. Auch Josef Hofmiller, wortgewaltiger Essayist und umfassend gebildeter Gymnasiallehrer, schrieb am 8. November 1918 in sein Tagebuch: "Wie an Fasching zog eine Menschenmenge stadtwärts, neugierig und ruhig. Das Hupen der Kraftwagen brachte etwas von unserem langweiligen Münchner Fasching herein." Tags darauf notierte er: "München war als Hauptstadt des Königreichs zu Bett gegangen, um als Hauptstadt des Volksstaates zu erwachen." Radikale Sozialisten unter Kurt Eisner hatten die Revolution ausgerufen und konnten ohne Blutvergießen eine bayerische Republik proklamieren. Was manche als Theatercoups landfremder bolschewistischer Volksbeglücker bewerteten, war in Wirklichkeit ein handfester Umsturz: Die jahrhundertelange Herrschaft der Wittelsbacher ging damit zu Ende. Erster Ministerpräsident des Freistaates Bayern wurde Kurt Eisner, der als Berliner, Jude und Bolschewik für reaktionäre Monarchisten die Inkarnation des Bösen war. Nach dessen Ermordung gab es ab Februar 1919 erbitterte Machtkämpfe, die von abscheulichen Gräueltaten begleitet wurden.

Die Vertreibung König Ludwigs III. und der damit einhergehende Systemwandel im November 1918 kamen für aufmerksame Zeitgenossen nicht überraschend. Schon 1916 wurden in Ingolstadt Waggons mit der Forderung "Schluß mit dem Krieg" beschmiert. Bei Kriegsbeginn 1914 war das noch ganz anders gewesen: Damals standen auf Eisenbahnwagen, die begeisterte Truppen an die Front brachten, ausschließlich patriotische Propaganda-Parolen.

Der Ingolstädter RathaussturmMittwoch, der 22. Mai 1918, war ein milder Maitag. Aber von Wonnen war in der Schanz wenig zu spüren. Zu arg wurde die Bevölkerung von der kriegsbedingten Not gebeutelt. Gegen 4 Uhr nachmittags schrillte die Feuerglocke. Schwarze Rauchschwaden stiegen über dem Colosseum auf; hellrote Feuerzungen schlugen aus den Fenstern des ehemaligen Vergnügungstempels, in dem "in der guten alten Zeit" vornehme Ingolstädter Bürger das Tanzbein geschwungen hatten. Während des Krieges hausten dort hunderte von Hilfsarbeitern, die in Rüstungsbetrieben eine Beschäftigung gefunden hatten. Eng ging es da zu. Das mag ein Grund gewesen sein, warum es unter diesen Bewohnern nicht selten zu massiven Handgreiflichkeiten kam. Die Nachtschichtler, die am Nachmittag des 22. Mai im Colosseum auf ihren Pritschen lagen, konnten sich in letzter Sekunde vor den Flammen retten. In Windeseile liefen Schaulustige zusammen, um das feurige Spektakel mitzuerleben. Eifrige Feuerwehrmänner preschten mit Pferdegespannen und Wasserpumpen heran.

In der Menge der Gaffer befand sich der Ingolstädter Korbmacher Weidner, der wegen verleumderischer Reden gegen die Obrigkeit eine Gefängnisstrafe von sieben Tagen hätte absitzen sollen, sich aber einer Festnahme entzogen hatte. Der Schutzmann Weber - wegen seiner rigiden Amtsausübung gehasst - erkannte den Delinquenten und versuchte ihn umgehend zu arretieren. Angesichts des gewaltsamen Zugriffs des Ordnungsmannes krakeelte der Korbmacher hemmungslos, wobei seine wüsten Beschimpfungen auf die "Großkopferten" und "Kriegstreiber" zielten. Das waren die Feindbilder dieses ehemaligen Frontsoldaten, den man wegen eines erlittenen "Nervenschocks" aus dem Militärdienst entlassen hatte. Gefesselt wurde er jetzt in die Polizeiräume im Rathaus geschleppt. Eine größere Gruppe folgte diesem spektakulären Abtransport. Gendarm Weber ließ dabei den Gummiknüppel mehrmals auf den Schreihals niederfahren. Das brachte die Menge vollends in Rage. Insbesondere Soldaten schalten die Gendarmen Lumpen, Faulenzer, Feiglinge und Drückeberger, die ihre Freude daran hätten, einen wehrlosen Kriegsteilnehmer, der für das Vaterland seinen Kopf hingehalten habe, grundlos niederzuknüppeln.

Vor dem Rathaus wurde die Situation immer brenzliger. In Windeseile verbreitete sich die Kunde, dass am Gouvernementplatz "was los" sei. Die Anzahl der Demonstranten stieg vor allem nach der Ankunft der Tagschichtarbeiter aus den Rüstungsbetrieben. Mehrere Tausend sollen es schließlich gewesen sein. Aus Sicherheitsgründen wurde der Zugang zum Rathaus verschlossen. "Macht Schluss mit dem Krieg" skandierte die aufgebrachte Menge. Steine flogen, Fensterscheiben splitterten. Die Fenster der Polizeiräume waren das erste Ziel. Der Korbmacher wurde auf freien Fuß gesetzt, doch schon waren radikale Rädelsführer über eingeworfene Fenster in Räume des Standesamtes gekommen. Die noch im Rathaus anwesenden Gendarmen machten sich schleunigst auf die Flucht. Mit einem eilends herbeigeschafften Brecheisen verschafften sich die Randalierer Zugang zum Magistratsgebäude. Berittene Soldaten, die die Menge zerstreuen sollten, verharrten in der Rolle von Beobachtern.

Mehr als pure Zerstörungslust Etwa 200 Personen haben das Rathaus gestürmt. In einem späteren Gerichtsurteil heißt es: "Die ins Rathaus eingedrungenen Personen waren von einer förmlichen Zerstörungswut erfasst. Mit Prügeln und Latten wurden die Türen und Fenster eingeschlagen, Behältnisse erbrochen, der Inhalt zerstört, Akten herausgerissen, zerknittert zerstampft?" Tische, Stühle und Schränke wurden zerschlagen und auf die Straße geworfen. Bald flogen unter dem Gejohle der parteiischen Beobachter Bücher und standesamtliche Register aus den Rathausfenstern. Dicke Aktenbündel folgten, Schreibmaschinen und sogar wertvolle Gemälde mit den Porträts von Würdenträgern! Schon wurde die Idee verbreitet, das "Gerümpel" anzuzünden. In wenigen Minuten brannte das Raubgut lichterloh. Schließlich wurde auch in mehreren Räumen des Rathauses Feuer gelegt.
In den umliegenden Geschäften schlugen Randalierer die Schaufenster ein. Die überforderten Polizisten konnten Plünderungen nicht verhindern. Erst nach mehreren Hilferufen des Bürgermeisters griffen gegen 22 Uhr Infanteristen ein - aber ziemlich halbherzig, denn unter den Aufständischen waren auch Soldaten. Erst weit nach Mitternacht fand der böse Spuk ein Ende.

Drei Tage nach den Unruhen berichtete die Ingolstädter Zeitung über den Rathaussturm. Ganz bewusst spielte der Kommentator die Bedeutung des Ereignisses herab, indem er schrieb, dass "die bedauerlichen Vorfälle keine allgemeinpolitischen, parteipolitischen oder wirtschaftlichen Ursachen hatten, vielmehr lediglich der rohen Radau- und Zerstörungslust junger und unreifer Personen beiderlei Geschlechts entsprungen sind." Da war wohl ein frommer Wunsch der Vater des patriotischen Gedankens. Zweifellos wurde mit den Ingolstädter Unruhen auch die tiefe Kluft zwischen politisch Verantwortlichen und der kriegsmüden und notleidenden Bevölkerung offenkundig. Im Rathaus sah man das gewaltsame Vorgehen jedenfalls nicht als einen Mummenschanz von Unpolitischen an. Dort wurde in einer Magistratssitzung festgestellt, dass die wirtschaftliche Not zu einer großen Unzufriedenheit führe. Gleichzeitig trat man dem Vorwurf entgegen, bei der Verteilung von Lebensmitteln käme es immer häufiger zu Unregelmäßigkeiten. Wie wenig die Räte dem innerstädtischen Frieden trauten, zeigt die Tatsache, dass man die Errichtung einer Bürgerwehr in Erwägung zog und laut über die Verstärkung der Gendarmerie nachdachte. Eine Woche nach dem Rathaussturm wurde verfügt, den resoluten Schutzmann Weber nur noch im Innendienst zu verwenden.

Symptome des UmbruchsDiese Ingolstädter Vorgänge dokumentieren, dass während der Kriegsjahre der Unmut kontinuierlich wuchs. Schon nach wenigen Kriegsmonaten war bei vielen die anfängliche Begeisterung einer tiefen Ernüchterung gewichen. Zu den ersten Ingolstädter Opfern zählte Alfred Kroher, einziger Sohn des Bürgermeisters Jakob Kroher. Die Mutter hat den Tod ihres Sohnes nie verwunden. 1919 ertränkte sie sich bei Bad Wiessee.

"Ihr werdet wieder zu Hause sein, ehe noch das Laub von den Bäumen fällt", hatte der preußische Hurra-Kaisers Wilhelm II. den Soldaten im August 1914 mit auf den Weg in den Krieg gegeben. Was für eine verantwortungslose Prophezeiung und kolossale Fehleinschätzung! Im Westen und Osten erstarrten die Fronten im Stellungskrieg. Kaum jemand hat geahnt, welch katastrophale Folgen die modernen Industriewaffen nach sich ziehen würden: Materialschlachten, Trommelfeuer, schwerste Verwundungen, millionenfachen Tod! Auch in der Heimat erfuhren die Menschen, welche Höllenqualen die Soldaten ertragen mussten. Feldpostbriefe gaben Einblicke in das erbärmliche Leben in den Schützengräben.

Immer länger wurden die Verlustlisten, die an den Rathäusern ausgehängt wurden - auch in Ingolstadt. Bitterstes Leid mussten Kirchenrat Ringler, Stadtpfarrer der evangelischen Gemeinde von St. Matthäus in Ingolstadt, und dessen Ehefrau ertragen: Am 14. September 1914 erlag ihr Sohn Otto, 25 Jahre alt, in einem Lothringer Lazarett seinen schweren Verwundungen. Georg, der jüngste der Ringlerbuben, fiel als 17-Jähriger noch im selben Monat, ebenfalls in Lothringen. An der Ostfront starb im März 1915 der mittlere Sohn Theo nach einer Schussverletzung; er wurde 22 Jahre alt.

Immer mehr Schwerverwundete überfüllten die Lazarette. In einer Halle, in der Lokomotiven repariert werden sollten, richtete man am Ingolstädter Hauptbahnhof das Reservelazarett II ein. Wegen Personalknappheit und eines akuten Mangels an medizinischen Geräten konnten die Verwundeten nur notdürftig versorgt werden. Mit Entsetzten registrieret man, zu welch grauenhaften Verstümmelungen Granatsplitter führten.

Viele Industriezweige waren auf die Produktion von Kriegsgütern umgestellt worden. Durch die Wirtschaftsblockade der Alliierten nahmen die Hungersnöte schließlich ein erschreckendes Ausmaß an. Neben Nahrungsmitteln fehlten Rohstoffe für die Waffenproduktion, weswegen Glocken von den Kirchtürmen geholt und eingeschmolzen wurden. Ingolstadt war schon vor dem Krieg zu einem Zentrum der Rüstungsindustrie geworden. Die größte dieser Waffenschmieden war das "Hauptlaboratorium", in dem während der Kriegszeiten bis zu 11000 Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigt waren.

1910 zählte Ingolstadt 23745 Einwohner; 1916 waren es über 47000. Die Investitionen der Stadt in den Wohnungsbau waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hunderte übernachteten im Sommer im Freien und suchten im Winter Unterschlupf in Hausgängen. In unmittelbarer Nähe des "Laboratore" entstand eine Barackensiedlung. Der Wohnraum beschränkte sich dort oft auf ein Holzgestell mit Schlafsack. Sanitäre Anlagen gab es nicht. Die Vermehrung von Ungeziefer und die unzureichende medizinische Versorgung begünstigten die Ausbreitung von Epidemien. Für eine Übernachtung waren von den "Baracklern" 15 Pfennige zu entrichten. Pro Tag verdienten die Männer im Durchschnitt 6 Mark; die Frauen, etwa die Hälfte der Beschäftigten, bekamen 4,50 Mark. Produziert wurde im Schichtbetrieb rund um die Uhr. Die tägliche Arbeitszeit betrug zwölf Stunden. Mit der Festsetzung von Höchstpreisen - ein Zentner Kartoffel kostet 3,75 Mark - und der Vergabe von Lebensmittelmarken versuchte man Gerechtigkeit herzustellen. In Wirklichkeit war das nichts anderes als eine Mängelverwaltung.

Kein Wunder, dass das Volk all diese Entbehrungen nicht mehr ertragen wollte, nachdem sich die Niederlage im Krieg abzeichnete. Der Zorn richtete sich zunehmend gegen die Obrigkeit und mündete in die Revolution, die beileibe nicht über Nacht kam, so wie auch der "Freistaat" nicht vom heiteren weiß-blauen Himmel fiel.

Franz Hofmeier