Das süße Leben

11.08.2008 | Stand 03.12.2020, 5:41 Uhr

Das vielleicht bekannteste Dreirad der Stadt: Renato Granatas Eiswagen ist zehn Jahre alt. Der legendäre Piaggo, Baujahr 1965, der früher hier stand, ist inzwischen wieder in Italien im Einsatz.

Ingolstadt (DK) „24 Stunden Ingolstadt“ lautet der Titel der Sommerserie im DK. In zwei Dutzend Geschichten wird jeweils eine Stunde des Tages an einem anderen Ort in Ingolstadt erzählt, um den ganz normalen Alltag zu schildern. Heute geht es weiter mit dem achten Teil der Serie: von 13 bis 14 Uhr an Renato Granatas Eiswagen.

Vor dem weißblauen Dreirad, der italienischen Firma Piaggio steht trotzdem ein Vater mit seinen vier Söhnen. In ihrer Ferienkluft – Strohhut, schicke Baumwollsocken und Sandalen – haben alle Appetit auf eine Kugel hausgemachtes Eis. Damit auch jeder mal jede Sorte versuchen kann – und das sind immerhin 22 – muss schlau bestellt werden. Letztendlich einigt sich die Männerriege auf eine bunte Kombination und zieht sich mit ihren Bechern auf die Bank vorm Modehaus Xaver Mayr zurück.

Eigene Herstellung

Andere Kinder haben weniger Glück. "Ich hab’ dir jetzt schon fünf Mal gesagt – es gibt heute kein Eis!", meckert eine Mutter, während ihr kleiner Sohn sehnsüchtig dem Eiswagen nachschaut. Er muss auf Vanille- oder Schokoeis verzichten, das Renato in seinem Eislabor herstellt. "Wir benutzen nur natürliche Zutaten: Milch, Früchte und Sahne", erklärt der gebürtige Mailänder.

Renatos Arbeitstag beginnt um sieben Uhr morgens mit der Eisproduktion. Mit Hilfe von drei Maschinen stellt er die Eissorten her. Für eine braucht er etwa 20 Minuten. Die Zutaten kauft er im Großhandel. "Ich benutze kein Pulver!", betont er mehrmals. So hat er sich eine große Stammkundschaft aufgebaut.

Seit 1976 können die Ingolstädter süße Schleckereien am Schliffelmarkt kaufen. Damals eröffneten Renatos Eltern, Antonia und Giovanni Granata, den mobilen Eisverkauf. Die Herstellung von Speiseeis hat in der Familie eine lange Tradition – fast jeder in der Sippe besitzt einen Stand oder eine Eisdiele. Renato hat den Eiswagen 2003 von seinen Eltern, die heute in der Nähe von Venedig leben, übernommen. Seitdem steht er entweder selbst auf der Verkaufsfläche seines Piaggio oder bekommt Hilfe von seiner Frau Elena. Sie greift ihm während der Sommerferien unter die Arme. Eigentlich ist sie Lehrerin. Seit 32 Jahren kann sich der Eisfan hier schon bei den ersten Sonnenstrahlen im Frühling eine Tüte Eis kaufen – von Anfang April bis Ende September steht der Wagen auf seinem angestammten Platz. In der Winterpause ist Renato Hausmann oder widmet sich seinen Hobbys: Malerei und Tarot.

Während er Porträts von Bob Marley, Dick und Doof oder einer holländischen Dogge auf seinem Handydisplay präsentiert, rollt plötzlich ein Gefährt die Harderstraße entlang, mit dem es das kleine Dreirad nur schwer aufnehmen kann: ein protziger schwarzer Hummer – und das auch noch als Stretchlimousine. "Da gibt’s wohl auch einen Pool drinnen", sagt Renato schmunzelnd. Aus dem Fenster des Luxusschlittens, der Richtung Rathausplatz gleitet, winkt eine Braut wie eine Prinzessin aus ihrer Sänfte.

Zentrale Anlaufstelle

Den Kontrast zum dicken Hummer bietet der Anblick eines Mannes, der auf der Bank gegenüber sitzt – oder eher liegt. Nach einem, vermutlich aber mehreren Bierchen hat er sich zum Ausruhen niedergelassen. "Den hab’ ich schon öfter gesehen", sagt Renato. An seinem Eisstand an der Kreuzung bekommt er viele Facetten des Lebens in Ingolstadt mit und dient manchmal auch als Auskunftsperson: "Wo geht’s hier zum Woolworth", fragt eine junge Frau im pinken Oberteil. Freundlich weisen Renato und Elena sie in die Ludwigstraße.

Die Wolkendecke ist ein wenig aufgerissen. Mit den Sonnenstrahlen kommt die Kundschaft. Die kleine Simone darf sich eine Kugel kaufen und entscheidet sich für den Geschmack "Kinderschokolade", bevor sie zu ihrer Mama springt. Renato verabschiedet alle Kunden mit einem freundlichen "Danke, ciao!"

In ruhigen Momenten wird der Italiener fast schon nachdenklich: "Man muss das Leben genießen", sagt er. Dolce Vita – das süße Leben. Wenn er den Eisstand einmal nicht mehr betreut, möchte er vielleicht als Straßenmaler arbeiten.

Und um sein Leben zu versüßen, kauft sich Olaf Waltchen erstmal zwei Kugeln Eis. "Ich bin Stammkunde und hol’ fast immer ein Eis, wenn ich vorbeikomme." Auch ein holländisches Paar läuft langsam vorbei und studiert das Angebot. Renato weiß aus langjähriger Erfahrung: Die Klassiker gehen am besten. Also Geschmacksrichtungen wie Vanille, Schokolade, Erdbeere oder Nuss. Die hat er schon tausende Male unter der weißblauen Markise hervorgereicht.

Den jetzigen Eiswagen hat er seit 1998, das frühere Modell, ein Oldtimer aus dem Jahr 1965, steht bei einem Onkel in Italien, der damit auch weiterhin Eis auf Märkten verkauft. Auch in seiner Freizeit kann Renato nicht genug von der Schleckerei kriegen: Eis verputze er kübelweise, gibt er lachend zu.

Mit dem Geschäft ist er an diesem Tag bisher nicht sehr zufrieden. Aber das kann noch werden, schließlich war das nur eine Stunde am wohl bekanntesten Eisstand Ingolstadts. Die Glocke im Turm der Moritzkirche verrät die Uhrzeit: 14 Uhr. Jetzt heißt es Abschied nehmen: Ciao und Arrivederci – aber nicht ohne eine Tüte Eis!