Ingolstadt
Schanzer ohne Mitgefühl?

In Ingolstadt liegt eine Joggerin verletzt auf dem Gehweg - und keiner hilft

21.11.2018 | Stand 23.09.2023, 5:02 Uhr
Sabine Kaczynski
Sie hat geholfen, viele Autofahrer vor ihr nicht: Lidia Semoski an der Unfallstelle, wo sie die verletzte Joggerin auffand. −Foto: Kaczynski

Ingolstadt (DK) Die 38-jährige Hepbergerin Lidia Semoski befuhr vor einigen Wochen an einem Mittwochvormittag gegen 9.30 Uhr die Deschinger Straße Richtung Unterhaunstadt.

Sie hatte in Ingolstadt Einkäufe erledigt und war auf dem Weg nach Kösching zu ihrer Arbeitsstelle, als ihr eine Person auffiel, die auf der anderen Straßenseite am Boden lag. "Das sah man aus 50 bis 60 Metern Entfernung", meint die 38-Jährige, die sich wunderte, dass keiner anhielt, um nachzusehen, was los ist. Sie selbst blieb mit dem Wagen stehen und ging zu der verletzten jungen Frau, die vor Schmerzen weinte. Sie war auf dem Heimweg vom Joggen kurz vor ihrem Zuhause ins Straucheln gekommen, gestürzt und hatte sich dabei den Fuß gebrochen. Sie verletzte sich so schwer, dass sie nicht mehr aufstehen konnte und blutend auf dem Gehweg liegen blieb - so, wie Lidia Semoski sie schließlich fand. Tatsächlich ist die Stelle, an der die junge Frau verunglückte, von allen Seiten gut einsehbar, keine 100 Meter entfernt steht eine Ampel, so dass der Verkehr ohnehin immer wieder zum Halten kommt. Dennoch blieb kein weiteres Auto stehen, um zu helfen - obwohl auch die Wetter- und Verkehrsverhältnisse an diesem Morgen problemlos waren.

"Man sah den Knochen herausragen", erinnert sich Semoski mit Schrecken an den Anblick. "Ich versuchte natürlich sofort, das Mädel zu versorgen. Eine ältere Dame kam vorbei und half mir, so gut es ging. " Viel konnte die Frau jedoch nicht tun, weil sie ihre kleine Enkelin an der Hand hatte. Sie rief aber sofort den Rettungsdienst, der auch binnen weniger Minuten vor Ort war. Was die Hepbergerin jedoch wütend machte, war die Tatsache, dass keiner der vielen Autofahrer, die an der Ersthelferin vorbeifuhren, anhielt, um mit anzupacken - oder zumindest nachzufragen, ob Hilfe benötigt wird.

Auch Joachim Steenman, Leiter Rettungsdienst beim BRK-Kreisverband Ingolstadt, dessen Leute die junge Frau später versorgten, kann ähnliche Situationen bestätigen: "Zumindest kann man sagen, dass gefühlt die Hilfsbereitschaft und Empathie für Notfallpatienten nachlässt. " Da es kalt war und Lidia Semoski nicht wusste, wie lange die junge Frau schon auf dem Boden gelegen hatte, wollte sie sie bis zum Eintreffen der Rettungskräfte in ihr Auto bringen: "Es war nicht einfach, sie in meinen Wagen zu setzen, denn sie konnte ja nicht mehr laufen. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, ich wäre für tatkräftige Unterstützung jedenfalls sehr dankbar gewesen", meint die couragierte 38-Jährige. "Ich habe den entgegenkommenden Autofahrern sogar gewinkt und war sicher, dass sie stehenbleiben würden - doch das tat keiner. " Ganz im Gegenteil: Einige hupten sogar, weil der Wagen der Hepbergerin ihnen im Weg stand und den fließenden Verkehr behinderte.

Auch diese Rücksichtslosigkeit erleben die Rettungskräfte vom BRK immer wieder, so Joachim Steenman: "Dieser Trend nimmt leider zu, gerade bei Partyeinsätzen oder Einsätzen bei Hilflosen in den Nachtschichten. Unser Personal wird nicht selten angepöbelt oder in der Ausführung seiner Tätigkeit behindert, indem beispielsweise kein Platz gemacht wird. " Gerade bei Unfallsituationen wie bei der verletzten Joggerin werde tatsächlich seltener geholfen, stellt der Leiter Rettungsdienst beim BRK-Kreisverband Ingolstadt fest: "Bei einem Verkehrsunfall finden sich immer Ersthelfer, während bei einem Hilflosen oder Betrunkenen auf der Straße eher nicht eingegriffen wird. In der Regel wird in solchen Situationen zwar der Notruf gewählt, aber es sind doch wenige bereit, Erste Hilfe zu leisten. " Wenn allerdings Ersthelfer vor Ort seien, seien diese meist hoch engagiert und versuchten oft, auch nach Eintreffen des Rettungsdienstes zu unterstützen. "Auch fällt uns auf, dass die Ersthelfer meistens jünger sind", so Steenman.

Was den Unfall der Joggerin in den Augen von Lidia Semoski noch dramatischer machte: Die Verletzte war eine ausländische Austauschschülerin, die nur gebrochen deutsch sprach und erst wenige Wochen in Ingolstadt war. "Mir hat das so leid getan! Was für einen Eindruck muss dieses junge Mädchen von unserer Stadt und ihren Einwohnern bekommen? ", fragt sich die 38-Jährige, die bei der verletzten Joggerin blieb, bis die Rettungskräfte sie ins Krankenhaus brachten, nachdenklich. "Vielleicht kann ich auf diesem Weg die Ingolstädter wachrütteln. Es war weder Berufsverkehr noch Stau - jeder hätte anhalten und helfen können. Die Kälte der Autofahrer hat mich wirklich traurig gemacht. "

Sabine Kaczynski