Ingolstadt
"Mit Anstand und Würde beendet"

Der große Personalschnitt bei Rieter ist vollzogen - Ein Gang mit Betriebsräten durch leere Hallen

16.01.2019 | Stand 23.09.2023, 5:39 Uhr
  −Foto: Heimerl, Schalles

Ingolstadt (DK) Mit dem Produktionsschluss bei Rieter ist zum Jahreswechsel ein Stück Ingolstädter Industriegeschichte zu Ende gegangen. Seit Jahresmitte 2018 sind die großen Hallen, in denen über Jahrzehnte Spinnereimaschinen für den weltweiten Vertrieb gefertigt wurden, sukzessive leergeräumt worden. Bei einem Rundgang mit den Betriebsräten Gerhard Hyna und Helmut Steinmeier werden Erinnerungen an eine stolze Unternehmenstradition wach.

Alles hat seine Zeit. Als die beiden Männer, mit denen der DK-Chronist durch große, weitgehend leere Hallen schreitet, Ende der 70er-Jahre in diesem Betrieb angefangen haben, war die damalige Schubert & Salzer Maschinenfabrik AG (vormals DESPAG, Schaubild zur Unternehmensgeschichte unten) das Ingolstädter Traditionsunternehmen schlechthin - eine Stadt in der Stadt, ein Mischkonzern mit Gießerei, Armaturenbau, Schreinerei, Kunststofffertigung und eben Maschinenbau. 3200 Leute haben noch vor 40 Jahren in zwei Betriebsteilen gearbeitet; das Gelände an der Römerstraße reichte weit nach Osten, hinein in den heutigen Nordpark, "rüber bis zum Mißlbeck", wie sich Helmut Steinmeier erinnert.

Steinmeier ist seit 1978 dabei, führt heute ein fünfköpfiges Team an, das die Arbeit im vormals dreimal so stark besetzten Ersatzteillager fortführt. Noch auf längere Sicht sollen Kunden in aller Welt, die spezielle elektrische und elektronische Bauteile für ihre Rotorspinnmaschinen benötigen, von Ingolstadt aus beliefert werden. Ein Großteil der Ersatzteilversorgung läuft im schweizerischen Rieter-Konzern, der 1987 bei der damaligen Schubsa eingestiegen war und ab 1992 vollends das Erscheinungsbild geprägt hat, inzwischen über ein Großlager in den Niederlanden.

UMZUG IN NEUBAU

Im Sommer werden zwei Lehrlinge aus Steinmeiers kleiner Gruppe fertig und wahrscheinlich nicht übernommen. Dann wird die Ersatzteilcrew nochmals ausgedünnt und vermutlich der letzte kleine Trupp der Ingolstädter Rieter-Belegschaft bleiben, der sein Tagwerk noch mit klassischer Handarbeit verrichtet. Alles weitere Personal, das am Standort verblieben ist - insgesamt gut 140 Leute - leistet Entwicklungs- und typische Verwaltungsarbeit. Diese Kerntruppe wird beizeiten in einen Neubau am östlichen Rand des jetzigen Betriebsgeländes umziehen, der weitaus größte Teil des 120000 Quadratmeter großen Areals wird - wie bereits berichtet - verkauft und für neue Nutzungen erschlossen.

Als vor fast zwei Jahren bekannt wurde, welcher Kahlschlag bei Rieter in absehbarer Zeit anstehen würde, war es ein Schock, der über die Werksmauern hinaus in die Stadt hinein wirkte. Längst ist Rieter nicht mehr das größte Unternehmen am Ort gewesen, doch wenn schon Arbeitsplätze bei einem Urgestein der Ingolstädter Industrie nicht mehr sicher sind - ist dann überhaupt in der vertrauten "alten" Arbeitswelt noch auf irgendetwas Verlass?

ERWÄGUNGEN UND ZWÄNGE

Doch die Unternehmen, zumal jene, die sich mit ihren Produkten auf dem Weltmarkt bewegen, stehen in einem immer unerbittlicheren Wettbewerb. Gerhard Hyna, seit vielen Jahren Betriebsratsvorsitzender bei Rieter in Ingolstadt und zudem Vorsitzender des europäischen Konzernbetriebsrates, hat die betriebswirtschaftlichen Erwägungen, manchmal regelrechte Zwänge, in zig Gesprächen mit Unternehmensvertretern angehört. Auf einer akademischen Ebene ist vieles davon nachzuvollziehen - auf der menschlichen Schiene, bei den Kolleginnen und Kollegen im Betrieb, Akzeptanz zu verlangen, ist etwas ganz anderes. "Die Leute", sagt Hyna, "haben nicht verstanden, warum die Arbeitsleistung, die sie erbracht haben, keine Anerkennung mehr gefunden hat."

220 Stellen sind jetzt bei Rieter weggefallen. Die gesamte Produktion ist nach Tschechien verlagert worden. Maschinen und Werkbänke, die Jahrzehnte in Ingolstädter Hallen gut ausgelastet waren, werden jetzt von Arbeitnehmern im Nachbarland, die unterm Strich (noch?) zu etwas günstigeren Löhnen arbeiten, in Beschlag genommen. Teils sind diese Konzern-Kollegen noch in Ingolstadt geschult worden. Diejenigen, die sie hier angeleitet haben, wussten genau, dass sie ihre Nachfolger sattelfest machten . . .

Doch es gibt keinen Zorn auf die tschechischen "Erben" der Ingolstädter Rieter-Produktion, versichert Gerhard Hyna, während er dem Besucher gemeinsam mit dem Betriebsratskollegen Steinmeier einige der jetzt leeren Produktionshallen zeigt. Hier haben noch bis vor einigen Monaten Dutzende Leute an den Maschinenmodulen gearbeitet. Markierungen am Boden zeigen noch die Stellen, an denen Montageeinheiten standen. Alles Geschichte.

WAS IST DIE STRATEGIE?

"Es waren nicht nur die Lohnkosten", verdeutlicht der Belegschaftsvertreter seine Erkenntnisse aus langen Diskussionen mit der Unternehmensführung, "es waren viele Faktoren - auch die Frage: Wo will Rieter strategisch hin?" Da seien die Karten, wie wohl in jedem größeren Unternehmen, nie vollständig auf den Tisch gelegt worden.

Hyna ist froh darüber und auch stolz darauf, dass die komplette Ingolstädter Mannschaft den herben Einschnitt letztlich tapfer und mit Disziplin bewältigt hat: "Unsere Leute haben das mit Anstand und Würde beendet", sagt der Betriebsratsvorsitzende. Er weiß zu gut, das langes Lamentieren vor den Werkstoren vielleicht etwas mehr öffentliche Wahrnehmung, wahrscheinlich aber keine Änderung der Situation gebracht hätte.

Der Belegschaftssprecher zollt aber auch der örtlichen Geschäftsleitung um Falk Matthes Respekt dafür, dass die Argumente und die Sorgen der betroffenen Arbeitnehmer ernst genommen wurden, dass mit einem Sozialplan und vor allem mit der jetzt installierten Transfergesellschaft, die vom Unternehmen und von der Arbeitsagentur finanziert wird, ein Netz für alle gespannt werden konnte, die nicht schnell neue Beschäftigung bei anderen Unternehmen finden konnten - die Mehrheit der Betroffenen.

Rund 170 Kolleginnen und Kollegen haben hier für jeweils maximal ein Jahr ein Anrecht auf Weiterbildung und Anleitung für ein bestmögliches Unterkommen auf dem Arbeitsmarkt - auch wenn es wahrscheinlich nicht in jedem Fall eine Ideallösung geben wird, geben kann. Etliche Kollegen, sagt Hyna, hätten nach so vielen Jahren im Betrieb nicht mehr damit gerechnet, nochmals von vorne anfangen zu müssen - keine einfache Situation: "Stellen Sie sich vor, sich nach Jahrzehnten nochmals neu bewerben zu müssen. Mancher weiß gar nicht mehr, wie das geht..." Sicher sei allerdings eines: Die nunmehr ehemaligen Kolleginnen und Kollegen seien besser ausgebildet, als es die möglichen neuen Arbeitgeber in kleineren Unternehmen vielleicht erwarteten. Auf Know-how sei bei Rieter immer Wert gelegt worden. Dass hier stets für den Weltmarkt produziert wurde, sei einfach nicht wegzudiskutieren.

"ARBEIT OHNE ENDE"

Und die Zukunft? Wie ist die Stimmung bei denen, die geblieben sind? Auch da wird man sich - nicht nur wegen des irgendwann anstehenden Umzugs - umstellen müssen. "Mancher Ingenieur, der bislang mal schnell zur Abstimmung in die Produktion gehen konnte, kann das jetzt nicht mehr", verdeutlicht Helmut Steinmeier. Andererseits bleibt den Entwicklern gerade nicht viel Zeit, dem Gewesenen groß nachzutrauern und über die eigene Zukunft zu grübeln. Die nächste Messe steht bevor. "Die Leute haben Arbeit ohne Ende", sagt Gerhard Hyna, "die entwickeln, da geht's richtig rund." Das klingt optimistisch, sogar ein wenig nach Neubeginn.
 

Bernd Heimerl