Ingolstadt
Eine aufgemischte Hausgemeinschaft

Schwurgericht befasst sich mit den Verhältnissen in der Umgebung des Pfaffenhofener Messerstechers

11.12.2018 | Stand 23.09.2023, 5:22 Uhr

Ingolstadt/Pfaffenhofen (DK) Nachbarschaftsstreitereien in einem Mietshaus kommen häufiger vor - selten aber werden sie in allen Details vor einem Schwurgericht erörtert. Im Fall der Pfaffenhofener Messerstecherei vom zweiten Weihnachtstag vorigen Jahres hat die 1. Strafkammer des Ingolstädter Landgerichts allerdings genau dies getan.

Mit etlichen Zeugen sind dort gestern die nachbarschaftlichen Verhältnisse in jenem Mehrfamilienhaus beleuchtet worden, in dessen Treppenhaus es vor bald einem Jahr zu den gefährlichen Stichen eines heute 56-jährigen Mieters gegen einen Nachbarn und dessen Sohn gekommen war (DK berichtete mehrfach). Dabei wurde deutlich, dass der jetzt wegen zweifachen versuchten Totschlags angeklagte Mann über die Jahre bereits häufiger Streit auch mit einigen anderen Mitbewohnern hatte - und dass wohl auch seine Ehefrau an etlichen Beschwerden, die gegen die Familie des später so schwer verletzten Mieters vorgebracht worden waren, durchaus großen Anteil gehabt haben dürfte.

Die Frau hat in der Hauptverhandlung von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Sie hält sich derzeit in einer Klinik auf. Als Zeuge geladen war aber gestern auch der 20-jährige Sohn des Angeklagten, der offenbar anfangs noch Aussagen gegenüber Ermittlern gemacht hatte, sich nun aber ebenfalls auf sein Verweigerungsrecht berief. Er soll nach Aussage seines Vaters von Geburt an (und später noch weiter gehende) gesundheitliche Probleme gehabt haben, die auch seine Eltern offenbar über die Jahre stark belastet haben.

Durch die gestern gehörten Aussagen wurde deutlich, dass sich die Familie des Messerstechers wohl über Jahre hinweg - gerade auch durch unwirsches Verhalten untereinander und gegenüber anderen - in der Nachbarschaft ziemlich isoliert hatte. Mutter und Sohn waren offenbar nicht berufstätig, der Ehemann war als Berufskraftfahrer zuletzt länger krank und dann arbeitslos gewesen.

Allem Anschein nach war die Welt von Eltern und Sohn mangels ausgleichender Kontakte nach außen immer kleiner geworden - man hatte sich offenbar mehr und mehr in die eigenen Probleme und in die Beschwerden über (vermeintliche?) Lärmbelästigungen durch die Familie der späteren Opfer hineingesteigert.

Schon in den Jahren vor der Tat gab es den gestrigen Zeugenaussagen zufolge immer wieder mal Vorfälle in dem Pfaffenhofener Mietshaus, bei denen die Familie des Angeklagten, maßgeblich aber er selbst, negativ aufgefallen war. Besonders soll der Mann einem vormals in der Wohnung unter ihm lebenden Rentnerehepaar zugesetzt haben, das er regelrecht eingeschüchtert haben soll. Eine Nachbarin, die bei einem besonders krassen Fall dazwischen gegangen war, soll dann ihrerseits von dem Lkw-Fahrer massiv bedroht worden sein. Es war deshalb sogar zu einer Beleidigungsklage vor dem Pfaffenhofener Amtsgericht gekommen.

Durch die Aussagen der Nachbarn ließ sich in der Gesamtschau vom Angeklagten das Bild eines cholerischen Charakters gewinnen, der wahrscheinlich durch die Probleme in der eigenen Familie (es soll häufig lautstarken Streit mit der Ehefrau gegeben haben) immer sensibler und nervöser auf Begebenheiten in seiner Umgebung reagierte - überreagierte, wie nun aufgrund des Messerangriffs vermutet werden muss. Eine genauere Analyse wird hier sicher der psychiatrische Gutachter liefern, der beim Fortsetzungstermin am morgigen Donnerstag gehört werden soll.

Die Gerichtsmedizinerin hat ihr Gutachten bereits gestern erstattet. Sie betonte in ihren Ausführungen zu den Verletzungen der Opfer die durchaus gegebene Lebensgefahr für Vater und Sohn. Unbehandelt oder zu spät versorgt, hätten die Messerstiche bei beiden jedenfalls tödliche Komplikationen heraufbeschwören können.

Die Gutachterin äußerte sich auch zur wahrscheinlichen Alkoholkonzentration beim Angeklagten während der Tat am 26.Dezember. Sie dürfte einer Rückrechnung zufolge zwischen 0,6 und 0,74 Promille betragen haben, was wohl nicht für eine alkoholbedingte eingeschränkte oder gar aufgehobene Steuerungsfähigkeit spricht.

Der Mann hatte zugegeben, an diesem Weihnachtstag nachmittags drei Flaschen Bier getrunken zu haben. Wie der Blick des Gerichts auf seinen Lebenslauf verriet, hatte der 56-jährige in frühen Erwachsenenjahren ein größeres Alkoholproblem gehabt. Später will er aber über viele Jahre weitgehend abstinent gewesen sein, nur noch gelegentlich ein wenig Bier konsumiert haben. Wie er gestern auf Nachfrage des Gerichts bekannte, lebt er gegenwärtig in Scheidung.

Bernd Heimerl