Ingolstadt
Die Spitze des Eisbergs

Beeinflussung der Ärzte durch die Pharmaindustrie via Praxisverwaltungssystem?

22.01.2019 | Stand 23.09.2023, 5:44 Uhr
"Passt Ihre Prophylaxe zu Karlas Leben?" Die Dame auf dem Online-Werbeplakat erscheint, kaum dass der Arzt ein von ihm gewähltes Medikament angeklickt hat. −Foto: Stückle

Ingolstadt (DK) Werden Ärzte bei der Verschreibung von Medikamenten übers Praxisverwaltungssystem durch die Pharmaindustrie beeinflusst? Diese Frage beantwortet der Ingolstädter Neurologe Michel Dauphin mit einem klaren Ja. Zumindest, wenn sie eine vom System angebotene, kostenlose Arzneimitteldatenbank nutzen. Da ploppt nämlich just in dem Moment, in dem der Mediziner ein Medikament anklickt, Werbung für ein anderes, in der Regel teureres Präparat auf.

Wir kennen das alle von der Internet-Suchmaschine Google: Wer als Suchbegriff etwa eine bestimmte Hautcreme eingibt, bekommt wenig später Haufenweise Werbung einschlägiger Onlineshops. Dass das in Praxisverwaltungssystemen, die, wie die Arzthelferin auch, Zugang zu allen Daten haben, mitunter genauso läuft, hat uns der Ingolstädter Neurologe Michel Dauphin anhand seines eigenen Systems demonstriert. Der Arzt nutzt wie viele anderen Kollegen ein Praxisverwaltungssystem des Marktführers CompuGroup, jenes Unternehmen, das auch einen Großteil der laut eHealth-Gesetz für alle Praxen bis 31. März vorgeschriebenen Konnektoren herstellt, die als Schnittstelle zwischen den Patientendaten und der elektronischen Patientenakte dienen sollen. Fürs Praxisverwaltungssystems selbst und seine Nutzung muss der Arzt zahlen. Dass die Arzneimitteldatenbank, die das System anbietet und Dauphin nutzt, kostenlos ist, war dem Mediziner bislang noch gar nicht bewusst. Mittlerweile weiß er: Seine bisherige Arzneimitteldatenbank von IFAP, eine Tochtergesellschaft der CompuGroup, auf die laut Homepage "jeder zweite niedergelassene Arzt und zahlreiche Kliniken in Deutschland vertrauen", finanziert sich durch Werbung. Doch es geht auch anders. Auf der Datenbank-Seite findet sich eine Funktionstaste für "werbungsfreie Informationen". Für 45 Euro im Monat kann der Arzt also eine neutrale Datenbank nutzen. "Der Preis für meine Freiheit", sagt Dauphin. Er will sein System so schnell wie möglich umstellen.

Das Beispiel, das er uns in seiner Praxis vorführt, zeigt "die hervorragende kollegiale Zusammenarbeit zwischen dem Praxisverwaltungssystem und der Pharmaindustrie", sagt er sarkastisch. Dauphin ruft eine von ihm angelegte Patientenakte "Test" auf, öffnet das Dokument "Arztbrief" und tippt Beschwerden und einen Befund ein. Die Diagnose erscheint als ICD-Ziffer. Unsere Testpatientin leidet mehr als vier Mal im Monat an Migräne. Da kommt eine medikamentöse Prophylaxe mit einem Betablocker wie Metoprolol oder Topiramat in Frage. Der Arzt entscheidet sich für den Wirkstoff Topiramat. Er öffnet die Ebene "Rezept", schreibt "Topiramat" in die Rezeptvorlage und drückt "Enter". Die Datenbank zeigt eine Liste verschiedener Präparate. Gleichzeitig erscheint daneben ein Plakat, das für ein neues Mittel der Firma Novartis wirbt, das seit November 2018 verfügbar ist. Auf dem Plakat erscheint das skeptische Gesicht einer Frau. Und die Frage: "Passt Ihre Prophylaxe zu Karlas Leben?"

"Das Praxisverwaltungssystem mischt sich in das Rezeptverhalten des Arztes ein und zeigt ihm die bessere Variante", erklärt Dauphin. Topiramat, das Medikament, das der Arzt ausgesucht hatte, kostet im Monat zehn Euro. Das Produkt, das die Werbung vorschlägt - eine Spritzenbehandlung - kommt auf 688 Euro pro Spritze. Der Spritzen-Pen muss einmal im Monat angewendet werden - drei Monate lang.

Die genutzte Datenbank ist von der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern zertifiziert, die Werbung gekennzeichnet. Alles legal. 2011 urteilte der Bundesgerichtshof, eine werbefinanzierte Datenbank sei "keine unzulässige Werbegabe ". Hausarzt Anton Böhm nutzt in seinen Praxen dennoch ein System ohne Werbung. Er sieht für junge Ärzte die Gefahr, dass sie durch die Werbung verführt würden, teure Arzneimittel zu verschreiben. Die Entscheidung über das verwendete System liege in der Verantwortung des Arztes, sagt er.

Der Vorsitzende des Ärztlichen Kreisverbandes Ingolstadt-Eichstätt, Carsten Helbig, setzt in seiner Praxis ebenfalls auf eine werbefreie Datenbank. Das Schalten von Werbung in den Medikamentendatenbanken sieht er nur als "die Spitze des Eisbergs". In seinen Augen beginnt die Einflussnahme der Pharmaindustrie viel früher - und sei "viel eingreifender". Etwa bei der Generierung von Daten im Rahmen medizinischer Studien. "Studien, die die Wirksamkeit einer bestimmten Medikamententherapie prüfen, werden zum überwältigenden Teil durch die Pharmaindustrie selber durchgeführt bzw. von dieser gesponsert." Hier könnten durch geschickte Formulierungen für die Auftraggeber einer Studie ungünstige Fragestellungen vermieden werden. Helbig: "Wer zahlt, schafft an!"

Ruth Stückle