Ingolstadt/Vohburg
Ein Tag im September

31.10.2018 | Stand 02.12.2020, 15:20 Uhr
Über Kilometer verteilt lagen am 1. September die Trümmerteile nach der verheerenden Explosion bei Bayernoil. Pfaffenhofens Kreisbrandrat Armin Wiesbeck (3. v. r.) zeigte Innenminister Joachim Herrmann (4. v. r.) die Unglücksstelle, als die Lage unter Kontrolle war. −Foto: Hauser

Ingolstadt/Vohburg (DK) Genau vor zwei Monaten schrammte die Region an einer gewaltigen Katastrophe vorbei, als die Bayern oil-Raffinerie in Vohburg am 1. September explodierte. Dank vieler glücklicher Umstände ist kein Toter zu beklagen. Der Schaden hielt sich zudem in Grenzen. Ein Protokoll teils dennoch dramatischer Minuten.

Der erste Samstag im September wird vielen Menschen in der Region für immer in Erinnerung bleiben. Wie vor allem die dramatischen ersten Minuten in Vohburg abliefen, haben der Pfaffenhofener Kreisbrandrat Armin Wiesbeck und Rainer Kimmel, stellvertretender Leiter der Integrierten Leitstelle in Ingolstadt, jetzt in der Versammlung des regionalen Rettungszweckverbandes minutiös und eindrucksvoll zusammengefasst.Samstag, 1. September, 5.09 UhrDie über das ganze Raffinerie-Gelände verteilten Sensoren lösen ohne bekannten Grund plötzlich Gasalarm aus. In der Integrierten Leitstelle (ILS) für die Region in der Hauptfeuerwache in Ingolstadt sind zu diesem Zeitpunkt drei Einsatzleitplätze mit Mitarbeitern belegt, zwei Männer ruhen in Bereitschaft nebenan, ein Schichtleiter ebenso.
 5.11 UhrKeine zwei Minuten später explodiert in Vohburg ein Anlagenteil des Prozessfeldes mit riesigen Feuerbällen, welche teils die 120 Meter hohen Kamine überragen. Eine gewaltige Druckwelle rollt durch die Region und zerstört fast alle Gebäude auf dem Produktionsareal. In der ILS wackeln Jalousien und Fenster. "Das sind 13 Kilometer Luftlinie", sagt Kimmel, der in der ILS die Einsatzleitung übernimmt.5.13 Uhr90 Sekunden nach der Detonation gehen die ersten Notrufe über die 112 bei der ILS ein. "Das Kraftwerk Irsching ist explodiert" - so sei die einhellige Meinung der Anrufer gewesen, berichtet Kimmel. Innerhalb von 45 Minuten laufen in der Folge 258 Notrufe auf. "Davon konnten wir nur 80 annehmen. Mehr ging einfach nicht", so der Einsatzleiter. Der Rest erhielt für den Notruf ein Belegtzeichen. Ein einmaliger Vorgang.5.14 UhrDie Alarmierung der ILS an die Einsatzkräfte geht raus: #A1910#Gefahrenstoff#Explosion/Verpuffung - Einsatzort Uniper Kraftwerk Irsching.5.17 UhrVollalarm für das ganze ILS-Personal wird ausgerufen. Am Ende sind 22 Disponenten im Einsatz.5.18 UhrEin erster Funkkontakt zu Bayernoil kommt zustande. "Wir sind es!" - so die Botschaft aus Vohburg. An alle Einheiten geht sofort die Nachricht raus: Korrektur Einsatzort Bayernoil.
5.21 UhrDie nächste Botschaft: MANV 26-50 - ein Massenanfall von Verletzten mit zwischen 26 und 50 Betroffenen wird erwartet.

Kurz darauf: Der erste längere Kontakt zu einem Bayernoil-Mitarbeiter in der Raffinerie kommt zustande. Er habe von Vermissten auf dem Gelände berichtet. Die Zahl 25 wird später kursieren. "Der ist davon ausgegangen, die Kollegen sind nicht mehr am Leben", sagt Kimmel, der die aufgezeichneten Anrufe nachgehört hat. "Da bekommt man jetzt noch eine Gänsehaut." Letztlich tauchen aber alle Beschäftigen in der einem Inferno gleichenden Umgebung wieder auf, als Einsatzkräfte suchen.5.50 UhrDer Örtliche Einsatzleiter (ÖEL) der Pfaffenhofener Kreisbrandinspektion ist mit seinem Stab einsatzfähig im Stiftl-Rasthof in Rockolding, wo sich alle Einsatzkräfte sammeln.5.57 UhrDie ILS ordert den Rettungshubschrauber "Christoph Regensburg" für einen Vorbeiflug an der Raffinerie. Die Aufklärung ergibt: 50 auf 50 Meter im Prozessfeld befinden sich "im Vollbrand".

 6.07 UhrDie Meldung der Feuerwehr-Einsatzleitung trifft in Ingolstadt ein: "Unkontrollierter Austritt von Benzin und Gas" - ohne Mengenangaben. Zu diesem Zeitpunkt läuft schon die Vollalarmierung.
In den Minuten danachNicht nur der Brand macht den Feuerwehren zu schaffen, auch die Folgen in der Region. "Im Radius von 15 bis 20 Kilometern im Donautal sind diverse Brandmeldeanlagen angesprungen", sagt Kimmel. Die Nachschau nimmt viel Zeit in Anspruch und bindet Kräfte. Die Kollegen der ILS aus Augsburg melden sich in Ingolstadt: Bei ihnen laufen aus Rain und Donauwörth die Meldungen über Explosionen auf, die Vohburg zugeordnet werden. "Das sind 50 Kilometer Entfernung!", betont Kimmel. Bei der Ingolstädter ILS kommen weitere Meldungen an. Am Notruf sind Bürger, die weitere Explosionen und beharrlich "Bei uns in Geisenfeld!" betonen. Die nach Vohburg ausrückenden Feuerwehren von dort erhalten den Auftrag, kurz nachzuschauen - finden aber nichts. Nur Bayernoil brennt.Auf dem Weg zu Raffinerie"Du bist in der Anfahrt und weißt nicht, was dich erwarten wird", schildert Kreisbrandrat Armin Wiesbeck seine eigenen Gedanken, als er auf die Flammen zurast. Dank Drohnen-Aufnahmen des Technischen Hilfswerks hat er nach der Ankunft bald einen guten Überblick. "Aus feuerwehrtechnischer Sicht war es eine relativ kleine Einsatzstelle." Eben 50 auf 50 Meter. Die hatte zwar viele Tücken, "aber Gott sei dank war der Schadensfall auf der anderen Seite der Prozesseinheit". Weg von den Gaskugeltanks, den großen Erdöltanks und der Abfüllanlage für Kesselwagen und Tanklastzüge.

Eine zentrale Sorge Wiesbecks und seiner erfahrenen Einsatzkräfte betrifft die Wasserförderung. "Wir haben uns an 2005 und den Einsatz in Münchsmünster erinnert. Da ist uns irgendwann das Löschwasser knapp geworden. Das passiert uns nicht wieder, war unser zentraler Gedanke." Schnell werden Entnahmestellen an der Paar direkt hinter der Raffinerie eingerichtet. "In der Hochphase haben wir 64000 Liter pro Minute gefördert", berichtet der Kreisbrandrat. Mit dem Wasser werden die Flammen eingedämmt und Anlagenteile gekühlt.7.45 UhrDer stellvertretende Pfaffenhofener Landrat Anton Westner ruft den Katastrophenfall aus. Landrat Martin Wolf ist in diesen Minuten auf dem Weg in den Kroatien-Urlaub und natürlich von der ersten Minute an eingebunden. "Wir wollten umdrehen. Als es dann hieß, es gibt keinen Toten, sind wir weitergefahren", sagt Wolf. Sein Stellvertreter Westner habe ihn dazu ermuntert. "Er meinte, wenn ich zurückkomme, wird nur noch jemand mehr herumstehen."In der ZwischenzeitDie Disponenten in der ILS fragen nach Behandlungsplätzen für Schwerstbrandverletzte. "Im süddeutschen und österreichischen Raum waren die Betten größtenteils ausgebucht", sagt Kimmel. Die Anfragen gehen bis in andere Bundesländer. Zur Unterstützung steigt auch die ILS in München ein. Sie fragt bis in die Beneluxstaaten nach. Gebraucht werden letztlich glücklicherweise keine dieser Betten.

Währenddessen wird die Gesamtevakuierung von Vohburg geplant und vorbereitet, zu der es letztlich aber nicht kommt. Die Integrierte Leitstelle in Landshut alarmiert dafür Einheiten. In Neustadt an der Donau stellen sich Einsatzkräfte auf, die auf Anordnung loslegen können. Letztlich werden 2200 Menschen in Knodorf, Irsching und dem westlichen Teil Vohburgs aufgerufen, ihre Häuser zu verlassen. Knapp 200 bis 250 Bürger kommen in Vohburger Turnhallen unter.9 UhrDie Lage wird als "unter Kontrolle" ausgegeben. Die vorläufige Bilanz sind zu diesem Zeitpunkt 16 Verletzte, alle vom Raffineriegelände, die meisten durch herumfliegende Teile nach der Explosion, aber kein Toter. Das große Aufatmen beginnt. Bis dahin sind 278 Einsatzmittel (also Fahrzeuge) alarmiert worden, sechs Hubschrauber stehen auf dem Manchinger Flugplatz bereit. In Summe kommen 650 Einsatzkräfte von Feuerwehren, Polizei, Technischem Hilfswerk und anderen Organisationen und Institutionen zum Einsatz.Nach 9 UhrWer am Einsatzleitstab in Rockolding und an der nach wie vor massiv rauchenden Raffinerie vorbeikommt, stößt auf ruhig und konzentriert arbeitende Einsatzkräfte. "Das lief wie bei einer Übung", bekommt Landrat Wolf als zentrale Schilderung übermittelt. "Ein besseres Signal kann es doch nicht geben", sagt der Landkreischef.

"Es war tatsächlich wie eine Übung", sagt auch Kreisbrandrat Wiesbeck. Man habe das Szenario in dieser Form erst ein halbes Jahr zuvor bei Regens Wagner Hohenwart eingeübt. "Ich glaube, wir sind gut aufgestellt."

Und dann schiebt er zum Abschluss noch hinzu. "Wir können froh sein, dass nicht mehr passiert ist. So ein Fall muss auch nicht mehr kommen."16.15 UhrDer Katastrophenfall wird wieder aufgehoben.
Dienstag, 18. September17 Tage nach der Explosion kommt das offizielle Einsatzende. Der letzte kleine Brand ist von der Werkfeuerwehr gelöscht, das letzte Gas kontrolliert abgefackelt. Die Aufräumarbeiten laufen längst. Auch die Brandermittler sind schon an der Arbeit.
Ermittlung läuftZwei Monate nach der Explosion ist die Ingolstädter Kriminalpolizei in Zusammenarbeit mit Experten des Landeskriminalamtes und externen Gutachtern weiter intensiv mit den Ermittlungen der nach wie vor offenen Brandursache beschäftigt.Die Brandstelle ist für die Ermittler sichergestellt. "Veränderungen", wie sie das Polizeipräsidium Oberbayern-Nord nennt, des Anlagenzustandes gab es bisher, da aus Sicherheitsgründen das restliche Gas aus den Prozessanlagen kontrolliert abgebrannt wurde. Für ihre Ermittlungen haben die Kriminaler außerdem inzwischen einzelne Anlagenteile abmontiert und näher untersucht.

"Die Zusammenarbeit mit Bayernoil wird von den Kollegen als sehr gut bezeichnet", berichtet Polizeisprecher Peter Grießer. Abgeschlossen seien die Vernehmungen der unmittelbar beteiligten Betriebsangehörigen, sagt Grießer. Weiter gesichtet werden die vielen Aufzeichnungen und Protokolle zu Anlagen und Messwerten. "Es ist eine sehr große Schadensstelle und eine komplexe Geschichte. Das dauert alles", betont Peter Grießer. Mit einem abschließenden Gutachten, das relevante Aussagen zu Ursache, möglichen Haftungsfragen und letztlich der Schadenshöhe trifft, wird frühestens im Laufe des Jahres 2019 gerechnet.

reh


Zahlen und Fakten

   0 Tote    1 Raffinerie    1 Sanitätseinsatzleitung    3 Drohnen    5 Digitalfunkmasten in Volllast für 130 Minuten    6 Rettungshubschrauber, davon ein G-RTH (Großraum-Rettungshubschrauber)    15 Mitarbeiter der Unterstützungsgruppe Örtliche Einsatzleitung (ÖEL)    22 Disponenten    24 Verletzte (inklusive Aufräumarbeiten), davon 4 Transporte in Kliniken    25 Schwerstbrandverletztenbetten in Alarmbereitschaft (Deutschland und Österreich)    36 Mitarbeiter des Landratsamtes    100 Polizeibeamte    151 Alarmfaxe    200 Kräfte des Technischen Hilfswerks   258 Notrufe (innerhalb 45 Minuten)    300 Rettungskräfte    350 Feuerwehrkräfte    1000 Wurstsemmeln    2200 Personen bei Evakuierung    4000 Semmeln    7000 Arbeitsstunden    >1.000.000 Euro Schaden