Ingolstadt
Auf einem Pferd ans Ziel ihrer Wünsche

Warum das Praktikum von Michaela Anthofer in Ungarn ein großer Schritt in Richtung Inklusion war

08.12.2021 | Stand 23.09.2023, 22:11 Uhr
Timo Schoch
Ihr Traum vom Praktikum im Ausland ging in Erfüllung: Michaela Anthofer beim Reiten auf dem Hof des Vereins "Sport trifft Kunst" in Ungarn mit Betreuerin Sandra Ewerling. −Foto: Privat

Ingolstadt - Ein Praktikum im Ausland ist für Schüler und Studenten normal.

Nichts Außergewöhnliches. Für Michaela Anthofer allerdings schon. Denn die 30-Jährige ist eine junge Frau mit speziellen Einschränkungen, die in den Lebenshilfe Werkstätten der Region 10 GmbH in einer Montagegruppe arbeitet. Sie durfte im August nun ein zweiwöchiges Praktikum in Ungarn absolvieren. Ein Novum bei der Lebenshilfe. Und ein großer Schritt in Richtung Inklusion.

Michaela Anthofers Liebling heißt Dollar. Ein weißes Pferd mit dunklen Flecken, großen blauen Augen und fast schon durchsichtigem Fell. Ihn hat Michaela Anthofer ins Herz geschlossen. "Weil er so endlos lieb ist", erzählt sie. Deshalb ging sie jeden Tag - vor dem Beginn ihres Praktikums - zu Dollar. "Zu ihm habe ich immer zuerst hallo gesagt. "

Dass die junge Frau mit der geistigen Behinderung auf einem Pferdehof in Westungarn sein durfte, ist nicht selbstverständlich. Fünf Jahre lang trug sie den Traum mit sich herum, allein ins Ausland zu gehen, mal ohne die sie stets unterstützende Familie im Rücken. Mit dem Rucksack durch Peru war ihre erste Idee.

Es begann mit der Frage nachden Zukunftserwartungen

Eva Sindram erinnert sich noch gut an den Moment, als sich Michaela Anthofer geöffnet hat und von ihrem Wunsch erzählte. Die Sozialpädagogin arbeitet für den Verein pro familia in Ingolstadt, mit dem Schwerpunkt "Sexualität und Behinderung". Einmal pro Monat berät sie auch in der Lebenshilfe. "Ausgangspunkt waren eine Frauengruppe und die Fragestellung: Wie stellt ihr euch eure Zukunft vor? ", erinnert sich Sindram. "Von zehn Frauen sagten neun: ,Ich möchte eine Wohnung und einen Freund. '" Aber Michaela Anthofer verblüffte Sindram mit einer völlig unerwarteten Aussage: "Michaela sagte: ,Ich möchte mit dem Rucksack durch Südamerika. '" Für Sindram war dieser Traum aber kein Hirngespinst, sondern ein Auftrag. Ein Teil ihres Inklusionsgedankens, der Gleichstellung aller Menschen. "Wir haben den Faden weiterverfolgt", erzählt Sindram.

Sie sprachen mit einem Mann, der mit seiner Familie in Südamerika lebt. "Er hat davon abgeraten und hat damit die Sorgen von Michaelas Mama bestätigt", sagt Sindram. Doch Inklusion heißt für die Sozialpädagogin auch, nicht gleich aufzugeben, sondern andere Wege zu suchen.

Sie besprach sich mit der Diplom-Psychologin Daniela Rose, die im psychologischen Fachdienst in den Lebenshilfe Werkstätten der Region 10 arbeitet. Beide überlegten, welche Möglichkeiten es nun gäbe, Michaela Anthofer zu unterstützen. So wurde zweigleisig geplant. Zum einen suchten die Frauen nach einer anderen Möglichkeit eines Praktikums im Ausland. Zum anderen musste die Arbeitssituation geklärt werden. Und da gab es viele offene Fragen: Ist dies grundsätzlich möglich? Behält Michaela Anthofer ihren Arbeitsplatz in den Lebenshilfe Werkstätten, wo sie in der Industriemontage arbeitet, die unter anderem für Audi produziert? Muss sie unbezahlten Urlaub nehmen? Oder wird sie für das Praktikum sogar bezahlt freigestellt? "Ein Praktikum wird durch die Lebenshilfe grundsätzlich ermöglicht, aber im Ausland hat es das in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung so noch nie gegeben", sagt Rose. Ihre Anfragen gingen weit - sogar bis zu einem Mitglied der BAG WfbM (Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen), die für die Interessenvertretung auf europäischer Ebene zuständig ist. "Letzten Endes mussten wir uns an rechtlichen Vorgaben orientieren, die besagen: Wir als Einrichtung können Michaela leider maximal unbezahlten Urlaub geben", sagt Rose. Für die Familie Anthofer war dies in Ordnung. Nun fehlte noch ein Praktikumsplatz. Und da kam der Zufall zu Hilfe.

Reiterhof mit 60 Pferdenund eigenem Hotel

Eva Sindrams Tochter ist mit Sandra Ewerling befreundet. Eine junge Frau, die für den gemeinnützigen Verein "Sport trifft Kunst" arbeitet, der sich in der Kinder- und Jugendbildung engagiert. Der Verein kaufte vor Kurzem einen Reiterhof, den größten in Westungarn, mit angegliedertem Hotel, Restaurant und Boxen für 60 Pferde. "Wir waren sofort offen für die Idee", erzählt Ewerling, die sich um das Marketing des Pferdehofs kümmert, aber nun kurzerhand als Betreuerin für Michaela Anthofers zweiwöchiges Praktikum im August dieses Jahres fungierte. So gut es möglich war, half Michaela Anthofer mit und unterstützte die Arbeitskräfte vor Ort im Reitstall. "Nur in die Reitboxen habe ich mich nicht immer hineingetraut", erzählt sie. Und wie war das mit dem Heimweh? Michaela Anthofer schüttelt den Kopf. "Ich war schon einmal alleine in Nürnberg. " Trotzdem hätte sie jeden Tag zu Hause angerufen. Und dabei natürlich vom Reiterhof und dem Praktikum erzählt.

Noch einige Monate später bekommt sie leuchtende Augen, wenn sie über ihre Zeit auf dem Reiterhof erzählt. Sie will unbedingt wieder dort hin. Am besten gleich im kommenden Jahr. Zu Dollar und Sandra Ewerling. Die studierte Sport-, Event- und Gesundheitsmanagerin hat schon signalisiert, dass Michaela Anthofer den Anfang machte für weitere Besuche von Menschen mit Behinderungen auf dem Reiterhof. "Natürlich ist auch Michaela jederzeit Willkommen", verrät Ewerling. Eva Sindram freut das sehr. Denn das sei Teil ihres Inklusionsgedankens: "Es ist normal, dass es Auslandspraktika für Schüler und Studenten gibt. Für Menschen mit Behinderung ist dies aber nicht angedacht. Das ist Brachland. " Zumindest ist durch Anthofer nun der Anfang gemacht.

DK

Timo Schoch