Ingolstadt
Auf dem richtigen Weg

Statt ins Gefängnis müssen jugendliche Straftäter auf Wanderung gehen

14.08.2018 | Stand 23.09.2023, 4:24 Uhr
Wandern statt Jugenarrest heißt es für fünf Jugendliche beim Projekt Arbeitsweg. Sie müssen als Strafe gut 70 Kilometer Wandern ? auch ein Stück Jakobsweg. Für die jungen Männer ist das Bergauf und -ab die schlimmste aller Strafen ? doch es geht dabei auch um Selbstreflexion und Veränderung. −Foto: Foto: Schmidt

Ingolstadt/Walting (DK) Für einige wäre das hier Urlaub. Für fünf Jugendliche ist es eine Strafe - im doppelten Sinne. Die jungen Männer, die um kurz nach neun Uhr vor Schloss Pfünz bei Eichstätt die Rucksäcke schultern, haben eine Straftat begangen. Statt aber im Jugendarrest zu landen, hat ihnen der Jugendrichter eine andere Maßnahme angeboten: Wandern - fünf Tage, gut 70 Kilometer, auch ein Stück Jakobsweg.

Was viele als mild ansehen würden, ist für die Jugendlichen eine Tortur. Doch es geht um viel mehr als bergauf und bergab. Hier laufen die Jugendlichen mit, die rauskommen müssen aus dem Alltag. Die nachdenken sollen über ihre Tat. Und denen es gut tun würde, eine Herausforderung zu meistern.

Zu sagen, dass die jungen Männer an diesem Dienstagmorgen wenig motiviert wirken, wäre übertrieben. Gut 20 Kilometer Etappe stehen heute an, die nächste Unterkunft ist in Morsbach, einem Ortsteil von Titting. Die Schultern hängen. Die Füße und Rücken tun noch von gestern weh, klagen die jungen Männer. Am Montag ist die Gruppe vom Reisberg bei Lippertshofen bis Pfünz gewandert. Ein Blick nach unten lässt einen Grund für die schmerzenden Sohlen vermuten. Statt Wanderschuhe tragen die Jugendlichen Turnschuhe. Ein Paar ist strahlend weiß. Das wird es bald nicht mehr sein.

Zu einer besseren Stimmung trägt auch nicht bei, dass jetzt der Morgenkreis ansteht. Reihum geht ein Stock. Jeder soll nun sagen, wie es ihm geht und für was er dankbar ist. Kollektives Augenrollen. Doch die Männer - alle zwischen 18 und 21 Jahre alt - machen mit, erzählen alle, dass es ihnen gut gehe. Und wofür sie dankbar sind? Schwierige Frage. Für das gute Frühstück, sagt einer. Dass er noch am Leben ist, ein anderer. Gelächter. Der Junge sieht nicht aus, als sei es ein Scherz gewesen.

Dann geht es los. Und wie. Das erste Stück am Waldrand hat es in sich. Es wird immer steiler. Selbst die Betreuerinnen Margot Kreuzberger und Christine Metzger, beide vom Verein Jugendhilfe Region 10, geraten ins Schwitzen. Sie begleiten dieses Projekt - das offiziell den Titel Arbeitsweg trägt - schon jahrelang. Die beiden Sozialpädagoginnen wissen, wie man die Jugendlichen behandeln muss. Sie bleiben ruhig, erklären, motivieren. Das Ziel ist, die Teilnehmer am Freitag in Allersberg in Mittelfranken wohlbehalten in den Zug zu setzen. Am besten alle fünf. Obwohl das Wort aufgeben in diesen Stunden immer mal wieder fällt.

"Heute morgen", erzählt Metzger, "haben sie sich beraten, ob sie alle gemeinsam aufgeben sollen. " Doch sie hätten sich nicht durchringen können. Vielleicht auch, weil sie wissen, was sie erwartet, wenn sie jetzt abbrechen. Dann geht es wieder vor den Jugendrichter, Ausgang ungewiss.

Einem der fünf scheint das egal zu sein. "Lieber gehe ich wieder in den Arrest als ein weiteres Mal hierhin", sagt er. Der junge Mann geht meist etwas abseits, ist stiller als die anderen. Er muss hier sein, weil er gestohlen hat, mehrfach. Und wegen ein paar anderer Sachen. Die Details murmelt er aber nur in sich hinein, es geht um süchtige Freunde. Später erzählen die anderen etwas von Drogenhandel. Der stille Jugendliche rammt während dem Reden bei jedem Schritt den aufgesammelten Stock in den Boden, als könnte der irgendetwas für seine Lage. Der junge Mann kämpft nicht nur körperlich. Nach einem Anstieg ist sein Gesicht schweißgebadet. Später sagen die anderen, dass er als einziger noch nicht sicher ist, ob er es bis Freitag schaffen wird.

Auf der Kuppe des Hügels folgt die erste Pause. Während die Betreuer als erstes zur Wasserflasche greifen, ist das primäre Bedürfnis aller Jugendlichen ein anderes. Zigarette, Feuerzeug, jetzt herrscht erst mal Ruhe. Neben herbstlichen Laub und ein paar Tropfen aus den Baumkronen wabert der Rauch durch die Luft. Ein Jugendlicher - hager, tonangebend in der Gruppe - bricht das Schweigen. "Das ist ein richtig asozialer Weg." Die anderen nicken. "Ach was, das ist ein guter Weg", sagt Kreuzberger mit einem Lächeln. "Der Weg kann nicht gut sein, er geht steil nach oben", gibt der Mann eilig zurück, "die besten Wege gehen bergab." "Ob das dann tatsächlich die besten Wege sind?", gibt Kreuzberger halblaut zurück, als sie schon wieder die Wasserflasche in den Rucksack packt.

Der Wegabschnitt, der nun folgt, ist vom Regen durchweicht. Doch von den Jugendlichen in Turnschuhen ist nichts zu hören. Still und schnell gehen sie zusammen bergab voran. "Dass die Teilnehmer eine solche Gruppe bilden, ist selten", sagt Metzger irgendwann. In den vergangenen Jahren sei auch schon vorgekommen, dass ein junger Mann nach Hause gefahren sei - unter anderem, weil er Angst vor den anderen hatte. Die beiden Sozialpädagoginnen wissen: Die ersten beiden Tage sind Entscheidungstage. Wer es heute schafft, wird wohl nicht mehr abbrechen.

Doch wer diese fünf Jugendlichen sieht, wie sie hin und wieder miteinander scherzen und ihr vermeintlich hartes Wander-Schicksal diskutieren, der glaubt kaum, dass sie sich erst 24 Stunden kennen. Sie verschmelzen auch zu einer Einheit, als an der nächsten Weggabelung nicht klar ist, wo es weitergeht - geradeaus oder rechts. Die Karte hilft nicht weiter, am Ende hilft nur ausprobieren. Während die Betreuer Wegenetz und Schilder studieren, werden die jungen Männer immer ungeduldiger. Im Kreis stehend beschweren sie sich lautstark über die Lage.

Irgendwann, sagt Metzger, da kam bisher noch bei allen der Punkt, an denen sich etwas veränderte, an denen die jungen Männer die Maßnahme angenommen haben, wie sie sagt. Dann hätten einige Teilnehmer das Bedürfnis, mal ein Stück alleine zu laufen oder sich bei einem Betreuer auszusprechen. Doch jetzt, Dienstagmittag, ist es noch nicht so weit. Bei der Rast im Affental verkriechen sie sich in ihre Schlafsäcke. Viel geschlafen haben sie nicht letzte Nacht, so ohne Eltern weit weg von daheim. Ob sie glauben, dass sich etwas verändern wird, wenn sie nach Hause fahren? "Nein", sagt einer trotzig, "überhaupt nicht. Nur werden wir bis dahin unsere Füße nicht mehr spüren." Alle Jugendlichen kichern. Doch nun geht es weiter - auf den Jakobsweg. Vielleicht hat der doch noch eine erhellende Wirkung.
 

Sophie Schmidt