Ingolstadt
Geschichten machen Geschichte

Anhand von Einzelschicksalen spürt eine neue Publikation der Ingolstädter Migrationshistorie nach

05.07.2018 | Stand 23.09.2023, 3:39 Uhr
Freudige Gesichter bei der Präsentation der Publikation zur Ingolstädter Migrationsgeschichte am Mittwoch im Rudolf-Koller-Saal. Das 50-seitige Heft ist unter anderem im Bürgeramt zu bekommen. Außerdem ist noch bis Donnerstag, 19. Juli, ? mit Ausnahme des 12. Juli ? zu den Geschäftszeiten eine Ausstellung zum Thema im Foyer des zweiten Stocks im Neuen Rathaus zu sehen. Der Ingolstädter Fotograf Ulli Rössle hat für die Dokumentation Menschen fotografiert, die aktuell oder schon vor einiger Zeit nach Ingolstadt gekommen sind. Unter anderem haben Familie Barakzai und Ida Alert für das Projekt von ihrem Schicksal berichtet. Für viele zugereiste Ingolstädter war der mittlerweile abgerissene Nordbahnhof (unten) das Erste, was sie von ihrer neuen Heimat sahen. −Foto: Fotos: Hammer/Rössle/Archiv

Ingolstadt (DK) Längst nicht jeder Ingolstädter ist in Ingolstadt geboren. Viele, die in der Stadt leben und sie als ihre Heimat empfinden, sind - von teilweise weit her - in die Schanz gezogen. Angesichts der aktuell teils harschen Diskussionen um Integration, Flüchtlinge und Asyl könnte leicht übersehen werden, dass die Migration Ingolstadt und Deutschland schon lange prägt. Daran erinnert die Publikation "Flucht - Vertreibung - Integration Migrationserfahrungen aus Ingolstadt 1945 bis 2018".

Das 50-seitige Heft ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit unter anderem engagierter Ingolstädter, Hilfsorganisationen, der Integrationsbeauftragten, der Gleichstellungsbeauftragten und des Amts für Soziales. Ziel sei es, bewusst zu machen, dass "schon immer Menschen zu uns gekommen sind", wie es die Integrationsbeauftragte Ingrid Gumplinger bei der Vorstellung der Publikation am Mittwoch sagte. "Es sind verschiedene Menschen, die aus ihren unterschiedlichsten Vergangenheiten eine gemeinsam Zukunft schaffen wollen." Dass dies auch und gerade in Ingolstadt immer wieder gelungen ist, hatte Bürgermeister Sepp Mißlbeck zuvor in seinem Grußwort betont. Mit einem Migrationsanteil von 40 Prozent und rund 120 Nationalitäten in der Stadt sei Ingolstadt ein gelebtes, positives Beispiel von Multi-Kulti. Dabei warnte er davor, diesen Begriff wie die oft strapazierte "Migration" zu einem "Modewort" verkommen zu lassen, das für politische Zwecke "genutzt und benutzt" wird. Wichtig sei zu erkennen, dass Zuwanderung nach Ingolstadt trotz mancher Beschwernis am Ende doch immer eine Bereicherung gewesen sei, betonte er. Dass Ingolstadt eine Boom-town sei, habe man auch den Zugezogenen zu verdanken.

In einem kurzen, aber eindringlichen Vortrag beleuchtete die Historikerin Susanne Greiter die geschichtswissenschaftliche Perspektive auf Flucht und Flüchtlinge. Die Frage "Kann man aus Geschichte lernen?" stellte sie ihrem Statement voraus. Sie skizzierte die einzelnen Flüchtlingsbewegungen, die seit dem Ersten Weltkrieg Deutschland und auch Ingolstadt erreicht haben. Reibungslos sind solche geschichtlichen Phasen nie verlaufen, betonte sie und verwies etwa auf Berichte von Flüchtlingen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Massenquartieren wie der Flandernkaserne untergebracht waren. "Mangelnde Privatsphäre, erlittene Traumata, Sorge um Angehörige und unsichere Zukunftsaussichten stressten die Bewohner", schreibt sie in ihrem Beitrag für die Publikation. "Auseinandersetzungen waren an der Tagesordnung." Eine Schilderung, die eklatant an die Beschreibung der Lebenssituation in den heutigen Flüchtlingsunterkünften des Ingolstädter Transitzentrums erinnert. Tatsächlich seien Parallelen in den Schilderungen Geflüchteter auffällig, so die Wissenschaftlerin. Dabei habe stets vor allem "Hoffnung auf eine spätere Rückkehr" Integration erschwert oder gar verhindert. In der aktuellen Situation verschärfe der Hass in den Sozialen Medien die Sache zusätzlich. "Aus einer Verrohung der Sprache kann aber schnell eine Verrohung der Gesellschaft werden", warnte Greiter.

Im Anschluss wurden die Schicksale der 14 nach Ingolstadt geflüchteten Menschen und Familien kurz vorgestellt, die die Kommunikationswissenschaftsstudentin Ilka John für das Projekt interviewt hat. Ihre Bereitschaft, ihr persönliches Schicksal offenzulegen, biete so die Möglichkeit, " ,die Flüchtlinge', die oft als eine Masse wahrgenommen werden zu Subjekten in der Geschichte zu machen", betont Greiter. Zu Wort kommen in dem Heft Menschen wie Farid Barakzai, der 2017 mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern vor dem Krieg aus der Ost-ukraine geflohen ist und jetzt in einer Asylbewerberunterkunft lebt. Im Gespräch mit dem DONAUKURIER schildert er, wie froh er trotz aller Entbehrungen ist, in Deutschland "sein zu dürfen". Er wisse, dass viele Deutsche skeptisch oder gar feindlich Asylbewerbern gegenüberstehen. "Weil wir nicht arbeiten und sie für uns zahlen müssen." Er könne das durchaus verstehen, habe sich die Situation aber nicht ausgesucht. "Ich würde gerne arbeiten, aber ich darf nicht", sagt er. Frustrierend und demotivierend sei das - für ihn und die Deutschen. Mit Sorge blickt er jetzt auf die Landtagswahl im Oktober.

Auch Ida Alert stammt aus der Ukraine. Sie wurde 1938 als eine Nachfahrin der Deutschen geboren, die unter Zar Alexander I. in den heute ukrainischen Gebieten angesiedelt wurden. Mit vier Jahren wurde sie mit ihrer Familie von Soldaten nach Deutschland in die Nähe von Leipzig gebracht. "Nach dem Krieg haben uns wieder Soldaten weggebracht", erzählt sie. Die Familie wurde nach Sibirien deportiert. Später kehrte Ida Alert mit ihrem Mann und zwei Kindern in die Ukraine zurück und lebte in ärmlichsten Verhältnissen, bis sie 1995 schließlich nach Ingolstadt kam. "Hier bin ich das erste Mal glücklich", sagt sie. Eines habe sie das Leben gelehrt: "Es gibt keine Nationen, nur gute oder böse Menschen." So formuliert sie auch eine Antwort auf die Frage aus Greiters Vortrag: "Man kann aus Geschichte lernen", ist auch die Historikerin überzeugt. "Wenn man es will." Die neue Dokumentation bietet reichlich Gelegenheit dazu.
 

Johannes Hauser