Stadtgeflüster
Abgesang auf den Konzertverein

22.05.2018 | Stand 02.12.2020, 16:22 Uhr

(rh) 20. Mai 2022. Die klassische Musikwelt blickt nach Ingolstadt.

Anlässlich seiner Auflösung nach über hundert Jahren hat der Konzertverein zu einem letzten großen Solidaritätskonzert in den Saal des neuen Kongresszentrums geladen. Und alle, wirklich alle sind gekommen, die in der Branche Rang und Namen haben, um ohne Gage zu musizieren. Bereits im Vorfeld hat Kirill Petrenko, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und als strikter Medienverweigerer bekannt, ausnahmsweise der DK-Kulturredaktion ein Interview gegeben. Es sei "eine Schande für eine so wohlhabende Stadt wie Ingolstadt", schimpfte der sonst sehr zurückhaltende Klangmagier, dass sie nicht in der Lage gewesen sei, dem verdienstvollen Konzertverein während der Theatersanierung einen akzeptablen Saal zur Verfügung zu stellen.
Die Programmfolge des Abends nimmt direkten Bezug auf die akustische Misere dieses Veranstaltungsortes. "Leise, ganz leise klingt's durch den Raum", singt der gefeierte Verdi- und Wagner-Tenor Jonas Kaufmann, der sich hier nicht zu schade ist, ein Operetten-Medley vorzutragen. Während der berühmte Sänger mit seiner Stimme die größten Opernhäuser der Welt auszufüllen vermag, ist gegen den schallschluckenden Teppichboden des Kongresssaales - übrigens durchwirkt mit blauen Panther-Motiven, eingefasst von vier Ringen - selbst die beste Gesangstechnik machtlos. Der Bariton-Kollege und renommierte Schubert-Interpret Christian Gerhaher hat sich für die Lieder "Täuschung" und "Irrlicht" aus dem Winterreise-Zyklus entschieden. Danach wechselt er in den eindringlichen Sprechgesang der "Grabschrift"-Ballade aus Brechts Dreigroschenoper. Eine außergewöhnliche Form des Protestes wählt Teodor Currentzis, exzentrischer Shootingstar unter den Dirigenten, der noch bei den Sommerkonzerten 2017 im Theaterfestsaal mit dem Mozart-Requiem Furore gemacht hatte: Er lässt sein wie immer schwarz gewandetes Ensemble MusicAeterna Aufstellung nehmen und eine Viertelstunde schweigend hinter den Notenpulten verharren, um anschließend ohne ein Wort der Erklärung den Saal zu verlassen.
Nach diesem stummen Zwischenspiel will es sich die Vereinsvorsitzende und versierte Chorleiterin Eva-Maria Atzerodt nicht nehmen lassen, selbst einen Beitrag zu diesem denkwürdigen Abend zu leisten. Sie dirigiert die Bach-Kantate "Ich habe genug". Die erschütternde Wirkung der Schluss-Arie ("Ich freue mich auf meinen Tod") löst sich erst allmählich in Jubel auf, nachdem Jonas Kaufmann als Zugabe das populäre Lied "Maria" aus Leonard Bernsteins West Side Story ankündigt, das er ausdrücklich der Dirigentin widmet. Von den Stadtratskollegen Atzerodts sind in den Reihen des Publikums keine auszumachen. Als die Zuhörer ins Freie strömen, ist der Nachthimmel über der Innenstadt hell erleuchtet vom Eröffnungsfeuerwerk des Pfingstvolksfestes.