Ingolstadt
Deutliche Worte aus Karlsruhe

Ingolstädter Landgericht nimmt erste höchstrichterliche Entscheidung im Abgas-Skandal sehr interessiert auf

24.06.2020 | Stand 23.09.2023, 12:32 Uhr
Die Akten mit Zivilverfahren stapeln sich im Ingolstädter Landgericht. Die Zahl der Neueingänge ist ungebrochen hoch. Die große Mehrheit sind weiterhin Diesel-Klagen gegen VW und Audi. −Foto: Rehberger/dpa

Ingolstadt - Die Worte des Bundesgerichtshofs (BGH) ließen an Deutlichkeit nichts vermissen.

 

"Systematisch und langjährig getäuscht" sei hier worden und "besonders verwerflich" vorgegangen. Die erste höchstrichterliche Entscheidung zum Diesel-Skandal bei Volkswagen glich, wie manche Kommentatoren fanden, einer schallenden juristischen Ohrfeige für den Automobilkonzern, der seine Kunden mit den Manipulation an der Abgassoftware geschädigt hatte.

Doch was bedeutet diese als Grundsatzurteil anzusehende Entscheidung für die vielen anderen Kläger, die teils selbst, teils gebündelt in Sammelklagen gegen Volkswagen und seine Töchter wie Audi vorgehen und auf Schadenersatz drängen. Für Zehntausende Dieselfahrer scheint der Weg nun frei zu sein. Kurz nach dem Urteil kündigte VW an, viele Kläger jetzt (doch) mit einer Einmalzahlung entschädigen zu wollen. Wie viele die annehmen, ist die große Frage. Und bei Audi? Gegen den Ingolstädter Autobauer liegen Hunderte Klagen beim Ingolstädter Landgericht, wo die Karlsruher Entscheidung mit großem Interesse aufgenommen worden ist. "Unmittelbare Auswirkungen" auf das Landgericht gebe es jedoch keine, teilte der Gerichtssprecher Jürgen Häuslschmid mit. Die Fälle lösen sich nicht von selbst auf. Zumindest hat das Landgericht in den Tagen seit dem Urteil auch noch nicht festgestellt, dass Klagen zurückgenommen worden seien oder sich mit einem Vergleich (Einmalzahlung) erledigt hätten. "Bisher hat noch keiner der Beteiligten die weiße Flagge gehisst", hat Häuslschmid, der als Richter selbst Diesel-Verfahren behandelt, auch aus dem Kollegenkreis erfahren.

Die große Frage für das Gericht und die betroffenen Zivilkammern ist nun, ob das, was der BGH in diesem einen entschiedenen Fall zu VW sagte, auch auf Audi anwendbar ist. "Die Äußerungen gingen zu dem Motor EA 189, der ein Volkswagen-Motor ist. Von Audi wurde bisher immer vorgetragen, dass das kein Audi-Motor ist", erklärt Häuslschmid. Nach der Entscheidung in Karlsruhe spreche viel für eine Gleichbehandlung, aber dennoch müsse stets jeder einzelne Fall mit seinen speziellen Umständen (gegen wen wurde geklagt, was beantragt und wie begründet) aufgearbeitet werden. "Das erledigt sich eben nicht von selbst", wiederholt der Richter.

Was die Ingolstädter Richter aus dem Urteil besonders interessiert zur Kenntnis nahmen, ist das Thema Laufleistung des Fahrzeugs. Der BGH entschied in dem einen Fall, dass sich der Kläger seine gefahrenen Kilometer anrechnen lassen muss für die Berechnung des Schadenersatzes. Als Grundlage für die Laufleistung des Motors wurden die 300000 Kilometer, wie von den Vorinstanzen in dem Fall angenommen, vom BGH nicht beanstandet. Diese Marke wird auch in Ingolstadt bisher als Berechnungsgröße verwendet, als sogenanntes Schätzermessen der Richter.

Eine höchstrichterliche Aussage erwartet man sich in Ingolstadt (und an anderen Landgerichten im ganzen Land) auch zu den Deliktzinsen. Im jetzigen Verfahren gab der BGH laut Häuslschmid keine Antwort darauf, ob auf die eingeklagte Summe (oder den errechneten Schadenersatz) noch Zinsen seit dem Zeitpunkt des Kaufes aufgeschlagen werden können oder sollen. "Am Landgericht war bisher die Linie, dass es das nicht gibt", so der Ingolstädter Gerichtssprecher.

 

Weitere Klarheiten aus Karlsruhe werden in den drei Diesel-Prozessen erwartet, die für Juli angesetzt sind.

Auch am Landgericht in Ingolstadt geht es nahtlos und unvermindert weiter, denn die Welle an Klagen von mutmaßlich betrogenen Autokäufern reißt im Jahr 2020 nicht ab. Das Karlsruher Urteil betrifft nur den berühmten Motor EA 189. Nur zu diesem "Volksmotor", bei dem VW im September 2015 die Verwendung der Schummel-Software einräumte, lassen sich also jetzt Entscheidungen ableiten - fast fünf Jahre später. Zum Jahreswechsel 2019/2020 ist zu diesem Motor die Verjährungsfrist für Klagen eingetreten, davon geht man zumindest am Ingolstädter Landgericht aus. Und dennoch nimmt eben die Zahl der eingereichten Diesel-Klagen nicht ab. Denn inzwischen sind viele weitere Motoren mit einer Abschalteinrichtung behördlich und öffentlich bekannt geworden; Stichwort Thermofenster. "Das Level ist ungebrochen hoch", so der Gerichtssprecher.

Wie Häuslschmid berichtet, liegen die Eingangszahlen zum jetzigen Zeitpunkt im Juni 2020 ziemlich genau auf dem Vorjahresniveau. 2019 gingen insgesamt rund 3000 Zivilklagen ein - eine Zahl, die das Landgericht eben kaum mehr stemmen kann und entsprechend oft und wiederholt Alarme geschlagen hat wegen einer Überforderung.

Als ein einziges Aktenzeichen wird dabei weiterhin ein Verfahren geführt, das allein rund 2800 Einzelfälle umfasst: die als eine Art Sammelklage eingereichten Kartons der Online-Plattform "MyRight". Darüber hat sich der Rechtsdienstleister Financialright, die Ansprüche der vielen mutmaßlich geprellten Diesel-Kunden abtreten lassen und geht nun konzertiert gegen VW und Audi vor.

Im Parallelverfahren in Braunschweig wurde dieses rechtlich nicht unumstrittene Geschäftsmodell vom dortigen Landgericht gebilligt. In Ingolstadt steht dieser Schritt von der zuständigen Zivilkammer aus - sie steckt mitten in der Entscheidung über die Frage der Zulässigkeit. In einer ersten mündlichen Verhandlung sei jetzt keine gütliche Einigung zwischen den Parteien zustande gekommen, sagt Häuslschmid. Die Kammer wird ihre Entscheidung noch vor den Ferien verkünden.

DK

 

Christian Rehberger