Abgas gehört zum Ambiente

08.08.2008 | Stand 03.12.2020, 5:41 Uhr

Blick auf Beton: Sophie und Daniel spielen hier ausnahmsweise auf der Straße, sonst im Laden des Jugendmigrationsdienstes.

Ingolstadt (DK)„24 Stunden Ingolstadt“ lautet der Titel der Sommerserie im DONAUKURIER. In zwei Dutzend Geschichten wird jeweils eine Stunde des Tages an einem anderen Ort in Ingolstadt erzählt, um den ganz normalen Alltag zu schildern. Diesmal ist die Kreuzung Richard-Wagner-Straße und Ettinger Straße in der Stunde 11 bis 12 Uhr an der Reihe.

Eine normale Kreuzung – und doch keine. Nie ist eine wie die andere in der Stadt. Jede hat ihre eigenen Anwohner, ihre eigenen Geschäfte, ihre eigene Geschichte. Das Auto mit den Nachrichten ist längst weitergefahren. Die Blechschlange dahinter auch. Hat grünes Licht bekommen.

Wenig lädt zum Verweilen ein. Jetzt sind wieder die Fußgänger dran. 17 Sekunden ist für sie der Übergang geschaltet. Ein Teenager ist der einzige, der diese Phase nutzt. Er schlurft von der Pius-Apotheke herüber. Beide Knie sind bandagiert. In dem Plastikbeutel trägt er Tabletten oder Medizin vorbei. Die vier Männer auf den Plastikstühlen vor den Adria-Spezialitäten ("Neueröffnung") blicken ihm hinterher. Hier gibt es immer etwas zu sehen. Deswegen kommen sie jeden Tag her, sagen sie – auf einen Vormittagsplausch. Man versteht sie aber nicht.

Die Abgase gehören hier zum Ambiente. Ein Auto mit Miltenberger Kennzeichen legt einen Kavalierstart in Richtung Osten hin. Die schwarze Rußwolke zieht sich über Meter. Es riecht nach verbranntem Gummi. Doch die Aufmerksamkeit lenkt bereits ein alter Mercedes 190 auf sich, dessen Auspuff abgebrochen auf der Straße schleift. Das Kratzen schmerzt beinahe in den Ohren. Der dreijährige Daniel würde sich gerne seine zuhalten. Aber er hat ein Schokocroissant in der Hand. Also kaut er weiter. Mit der zweieinhalbjährigen Sophie sitzt er im Eingang zum Jugendmigrationsdienst, der hier seinen Second-Hand-Shop betreibt. Das erste Haus am Platz. "Diese Kreuzung hat viele Geschichten", sagt Karoline Schwärzli-Bühler, die den Laden und den Dienst leitet.

Der 17. Sattelzug in dieser Stunde rollt inzwischen aus der Ettinger Straße heraus. Es ist kurz nach halb zwölf. Der Fahrer hupt. Er wird damit der einzige bis Mittag bleiben. Seine Hand schwingt aus dem Fenster. Ein Gruß. Er hat jemanden am Straßenrand erkannt.

Hinter ihm überquert Henryk Stankiewicz die Straße mit seinem Rad. "Ein alter Piusviertler", nennt er sich. Er eilt in die Lottoannahme. Schnell die Glücksnummern abgeben vor dem Mittag. Danach blickt der Rentner auf die Straße und dreht den Kopf. Der Familie Kuttenreich habe hier vor vielen, vielen Jahren der ganze Grund gehört, berichten er und ein Bekannter, der dazustößt. Inzwischen blicken bereits seit Jahrzehnten Mehrfamilienhäuser auf die Kreuzung und das Treiben. Die Gegend ist den Männern etwas fremd geworden. Drüben, jenseits des Grünstreifens sei einmal ein schöner Garten gewesen. Neben der heutigen Postfiliale ist das jetzt ein betonierter Parkplatz.

Beton überall. Vom Dach des Lottoladens tropft Wasser auf den Asphalt neben die Männer, denen plötzlich warm wird. Die Sonne schiebt sich das erste Mal zwischen den Wolken hindurch. Die Drehuhr an der Kreuzung zeigt 11.39 Uhr. Langsam rotiert auch die Trommel des Betonlasters, der mit einem Zischen bei Rot hält. "Dort hinten!" Stankiewicz zeigt ein paar Meter die Ettinger Straße zurück. Dort hinten sei dieser Unfall mit dem Mädchen und dem amputierten Bein geschehen. Dann radelt er weiter, vorbei an der Frau mit dem Kopftuch, vorbei an dem Pärchen, das einen Einkaufswagen vom Supermarkt wegschiebt. Der Schlitz für das Pfand am Wagen ist abgeklebt.

Die Uhr springt auf Punkt zwölf, die Ampel an der Hindenburgstraße im selben Moment auf Grün. Eine weitere Welle Autos ergießt sich in die Straße. Bei einem wummern Bässe durchs offene Fenster. Nicht überall sind Nachrichten aus der Welt gefragt.