Roth
Vor der letzten Reise

Auf der Palliativstation der Kreisklinik Roth werden Menschen versorgt, die unheilbar krank sind - sie wollen in Würde sterben

23.07.2019 | Stand 23.09.2023, 7:54 Uhr
  −Foto: Hofmann

Roth (HK) Mit einem lauten Scheppern fällt die Nierenschale zu Boden, langsam öffnet sich die Tür von Zimmer eins und Josef Müller (Name geändert) tappt nur mit T-Shirt, Unterhose und Socken bekleidet auf den Gang.

Orientierungslos steht er vor dem Stationszimmer. Es ist kurz vor 6 Uhr morgens und Josef Müller hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Trotz Beruhigungsmittel steigt der 78-Jährige fast im Halbstundentakt aus dem Bett. Er leidet an Blasenkrebs, außerdem ist er dement.

Der Krankenpfleger Mario Zuin ist seit 21 Uhr im Einsatz. Die Nierenschale hat er als "Alarmanlage" auf die Türklinke von Müllers Zimmer gelegt, damit er sofort mitbekommt, wenn sich der Patient auf den Weg macht. Sanft legt er dem 78-Jährigen den Arm um die Schulter und führt ihn zurück in sein Krankenbett.

Die Palliativstation der Kreisklinik Roth hat elf Einzelzimmer. Hier werden Patienten versorgt, die schwer krank sind. Ihre Leiden sind so weit fortgeschritten, dass sie nur noch gelindert, nicht mehr geheilt werden können. Die Patienten sind meistens zwischen 50 und 80 Jahre alt. Etwa 90 Prozent von ihnen haben Krebs.

Die Nachtschicht geht zu Ende und Petra Dorr und Karin Zuckermandel übernehmen. Es ist halb Sieben, Zeit für das Frühstück, Medikamente und Körperpflege. "Unsere Patienten haben einen hohen Pflegebedarf, die meisten müssen im Bett versorgt werden", sagt Petra Dorr und betritt das Zimmer von Hans Reiter (Name geändert). Der Patient hat Lungenkrebs, seine Erkrankung ist inzwischen soweit fortgeschritten, dass sich Metastasen im Gehirn gebildet haben.

Hans Reiter liegt auf dem Rücken, die Bettdecke hat er nach unten gestrampelt. "Guten Morgen Herr Reiter, ich bin die Petra", sagt die Krankenschwester und streift sich blaue Einweghandschuhe über die Finger. Sie drückt auf einen Knopf, surrend fährt das Bett nach oben. "Ich bin die Petra", wiederholt der 72-Jährige. "Ich würde Sie gerne ein wenig frisch machen", sagt die Pflegerin. Sie geht ins Badezimmer, füllt eine Metallschüssel mit Wasser, taucht den Waschlappen ein und fährt vorsichtig über das Gesicht des Patienten. Dann bedeckt sie die kurzen, weißen Bartstoppeln mit Schaum und beginnt zu rasieren. In der Ecke stehen ein grauer Schalenkoffer, Hausschuhe und eine Gehstock.

Hans Reiter wird heute in ein Pflegeheim verlegt. Im Unterschied zu einem Hospiz, wo die Patienten bis zu ihrem Tod begleitet werden, dauert der Aufenthalt auf der Palliativstation in der Regel nicht länger als 21 Tage. Viele von ihnen leiden unter Atemnot, Erbrechen, Durchfall oder Verstopfung, Unruhe oder Verwirrung und starken Schmerzen. Auf der Station wird die Medikation so angepasst, dass die Menschen wieder nach Hause, ins Pflegeheim oder ins Hospiz entlassen werden können.

Petra Dorr wischt den Schaum weg. "Das ist super geworden, da können Sie sich etwas vornehmen, da machen Sie überall eine gute Figur", sagt die Pflegerin und lächelt. Sie holt frisches Wasser. "Herr Reiter, sehen Sie noch etwas? " Der 72-Jährige überlegt kurz: "Ja: Schatten. " Er ist fast blind. Petra Dorr zieht dem Patienten das Schlafanzugoberteil aus und wäscht Brust, Bauch und Arme mit dem Waschlappen. Beim Abtrocknen fällt ihr Blick auf Hans Reiters linke Hand, vom Mittelfinger ist nur noch ein Stummel übrig. "Wie haben Sie denn ihren Finger verloren? Wissen Sie das noch? " "Schreckgespenst", sagt er nur und lacht. Auch die Pflegerin weiß nicht, was er damit meint.

Jetzt wäscht Petra Dorr die Beine. Münzgroße blaue Flecken an den Oberschenkeln markieren die Einstichstellen, wo Reiter Heparin verabreicht worden ist, ein Blutverdünner, der verhindern soll, dass sich durch das ständige Liegen Blutgerinsel bilden. Danach bekommt Hans Reiter eine frische Windel und die Krankenschwester putzt seine Zähne und kämmt die dünnen, weißen Haare. "Wollen Sie frühstücken? " "Nein. " "Wollen Sie einen Kaffee? " "Nein. " "Oder was anderes? " "Was anderes. " "Was denn? " "Verrat ich nicht", sagt Hans Reiter und lacht. "So kommen wir nicht weiter", sagt Petra Dorr und seufzt.

Jetzt muss Hans Reiter noch seine Schmerztropfen nehmen. Die Krankenschwester setzt ihm einen kleinen Plastikbecher an den Mund. Der 72-Jährige trinkt, schluckt, trinkt wieder, behält diesmal aber die durchsichtige Flüssigkeit im Mund und beginnt sie mit aufgeblasenen Backen im Mund hin und her zu spülen. "Schlucken, nicht spülen", sagt Petra Dorr. Aber der Patient spitzt die Lippen und spuckt. Die Pflegerin nimmt ein Tuch und wischt sein Kinn ab.

In einer Tabelle notiert sie, dass Hans Reiter jetzt aufrecht im Bett sitzt, die Beine angewinkelt, das Kopfteil des Bettes stützt den Rücken. Damit durch das ständige Liegen keine Haut- und Gewebeschäden entstehen, müssen die Patienten alle drei Stunden in eine neue Position gebracht werden. Immer wenn der Patient bewegt wird, muss das dokumentiert werden. Es gibt 15 mögliche Positionen.

Die Palliativstation ist wohnlicher eingerichtet als andere Stationen. Die Wände sind in einem warmen Orange gestrichen, die Zimmer in einem hellen Gelb. Auf dem Flur steht ein Aquarium, flankiert von roten Sesseln. Betritt man die Station, fällt der erste Blick auf ein Banner mit der Aufschrift: "Es ist unsere Aufgabe, nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zu geben. "

Inzwischen ist es halb Acht, Petra Dorr muss die Thoraxdrainage von Benedikt Regensburger abklemmen, denn heute soll seine Lunge geröntgt werden. Bei ihm wurde festgestellt, dass seine Lungenflügel zusammengefaltet sind, dadurch bekommt er immer wieder schlecht Luft. Mit dem durchsichtigen Schlauch wird deshalb im Körper zwischen Lunge und Rippenfell ein Unterdruck erzeugt, so dass sich die Lungenflügel wieder auffalten. Benedikt Regensburger ist 91 Jahre alt und damit gerade der älteste Patient auf der Station. Er leidet an einem "schwachen Herzen", so nennt er seine Erkrankung zumindest selbst.

Eigentlich hätte Benedikt Regensburger eine neue Herzklappe gebraucht, aber das sei von der Krankenkasse abgelehnt worden, wegen seines Alters und seiner schlechten Nierenwerte. "Unsere Patienten haben oft typische Alterserkrankungen, bei denen man mit der Behandlung an Grenzen stößt", sagt Petra Dorr. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen der Palliativstation und anderen Abteilungen des Krankenhauses: Hier können die Ärzte und Pfleger nur noch Symptome lindern und so ein Sterben in Würde ermöglichen.

Den meisten Patienten auf der Palliativstation ist bewusst, dass sie bald sterben werden. Jeder geht damit anders um. Benedikt Regensburger sagt: "Die Zeit kommt für jeden, aber ich denke nicht so darüber nach. Als ich hier eingewiesen wurde, habe ich gemeint, ich komme hier nicht mehr lebend raus. Aber jetzt geht es mir wieder besser. " Er blickt in die Ferne. "Ich habe meine Sachen alle erledigt. Wenn man mal 90 Jahre alt ist, dann hat man viel erlebt. Viel Schönes, aber auch Unangenehmes. "

Benedikt Regensburger erzählt von seinen drei Kindern, seinen Enkeln und Urenkeln. Von seiner Frau, die bereits vor 19 Jahren im Rother Krankenhaus gestorben ist. "Ich war hier und meine Kinder auch. " Er erzählt, dass er 20 Jahre lang Tag und Nacht gearbeitet hat, um seine Familie zu ernähren, auf dem Bau und dem kleinen Bauernhof seiner Schwiegereltern. "Wir haben uns nicht alles leisten können, aber wir sind glücklich gewesen. " Er erinnert sich an die schwere Zeit nach dem Krieg und seine Zeit in russischer Gefangenschaft. "Wir haben im Wald in Hütten aus Holz und Planen gehaust. Acht bis zehn Mann in einer Hütte zusammen mit haufenweise Läusen und Flöhen. " Unwillkürlich kratzt sich Benedikt Regensburger am Arm. "Der Mensch hält so viel aus. " Und Benedikt Regensburger hält tatsächlich viel aus. Inzwischen ist er wieder daheim bei seiner Familie.

Aus Zimmer eins dringt Musik. Josef Müller hockt im schwarzen Trainingsanzug auf der Bettkante und singt: "Wohl auf, die Luft geht frisch und rein, wer lange sitzt muss rosten. Den allersonn'gsten Sonnenschein lässt uns der Himmel kosten. " Musiktherapeut Wolfgang Meixner begleitet ihn mit dem Akkordeon. "Ich bin wirklich erstaunt, wie textsicher Sie sind. Ich muss immer ins Liederbuch schauen", sagt Wolfgang Meixner anerkennend.

Als der Musiktherapeut Josef Müller fragt, wie seine Tochter heißt oder was er vor einer halben Stunde gegessen hat, kann der 78-Jährige keine Antwort geben. Seine Demenz hat die Erinnerung daran bereits aus seinem Gedächtnis gelöscht. Aber die Lieder, die er in seiner Jugend gesungen hat, sind noch fest in seinem Kopf verankert.

Josef Müller legt sich aufs Bett, Wolfgang Meixner platziert auf seinem Bauch eine Tambura, ein rechteckiges Saiteninstrument mit einem etwa einen halben Meter langen Körper. Auf seinen eigenen Schoß setzt der Musiktherapeut eine Traumleier, auch ein Saiteninstrument, nur kleiner und oval. Abwechselnd streicht er mal auf der Tambura, mal auf der Traumleier über die Saiten. "Diese Instrumente haben eine positive Wirkung auf Patienten mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen. Ihre Schwingungen bewirken, dass sich die Atmung reguliert, sie bringen den Stoffwechsel in Gang und sind gut bei Wassereinlagerungen in den Beinen", sagt Wolfgang Meixner.

Auf dem Flur sind Stimmen zu hören. Josef Müller richtet sich auf. "Da draußen. . . " "Das sind nur die Krankenschwestern, die sich unterhalten", sagt Wolfgang Meixner. "Da will ich mal rausschauen", entgegnet der 78-Jährige, schiebt das Instrument von seinem Körper und schwingt die Beine aus dem Bett.

Auf dem Gang vor Zimmer sechs steht eine Glasschale mit Teelichtern. Pflegerin Karin Zuckermandel öffnet die Tür und schiebt das Krankenbett heraus. Unter dem weißen Bettlaken zeichnen sich Umrisse ab: Die Nasenspitze, ein länglicher Kopf, gefaltete Hände. Mit dem Aufzug fährt die Krankenschwester in den Keller, dann rollt sie das Bett durch einen langen Gang. Es wird immer kälter und dunkler. Ihr Ziel ist die Prosektur.

Etwa 60 Prozent der Patienten sind so krank, dass sie auf der Palliativstation versterben. Rund 200 Betten schieben die Pfleger der Palliativstation der Rother Kreisklinik jährlich durch den dunklen Kellergang in einen engen Raum mit sechs Kühlfächern. Für sie ist der Umgang mit dem Tod Alltag. Karin Zuckermandel schlägt das Laken zurück. Auf der Matratze liegt der Körper eines dünnen Mannes, die Haut ist bleich, das Gesicht eingefallen. In seinen gefalteten Händen liegt eine rote Rose, am Hals trägt er ein großes, goldenes Kreuz. Gemeinsam mit ihrer Kollegin hebt Karin Zuckermandel den Körper auf eine Bahre und schiebt ihn in das Fach mit der Nummer drei. "Gute Reise! ", sagt ihre Kollegin. Und schließt das Kühlfach.
 

Bianca Hofmann