Hilpoltstein
"Viele von uns waren lebendige Leichen"

Abba Naor erzählt Realschülern Geschichte des Überlebens - Dem Konzentrationslager entronnen

05.07.2021 | Stand 09.07.2021, 3:33 Uhr
Videovortrag mit Abba Naor in der Realschule. −Foto: Tschapka

Hilpoltstein - Mit dem Video-Vortrag des Holocaust-Überlebenden Abba Naor berichtete an der Realschule Hilpoltstein erstmals ein Jude von seinen Erfahrungen während der Nazi-Zeit.

In den vergangenen Jahren war es üblicherweise immer ein Zeitzeuge aus dem Kulturkreis der Sinti und Roma, der den Zehntklässlern in der Aula von Angesicht zu Angesicht seine Erlebnisse schilderte.

Da in diesem Jahr coronabedingt die Exkursion in eine KZ-Gedenkstätte am Ende der neunten Klasse ausfiel, fand der Vortrag diesmal vor dieser Jahrgangsstufe statt. Organisiert wurde der Besuch, der live aus der KZ-Gedenkstätte Dachau in alle Klassenzimmer der fünf neunten Klassen übertragen wurde, von der Deutsch- und Geschichtslehrerin Véronique Quiring, die vergangenes Jahr in einer Münchner Realschule unterrichtete und dabei den Vortrag des gebürtigen Litauers schon einmal gehört hatte.

"Vieles, worüber ich zu berichten habe, wird manchmal langweilig sein, und manchmal auch nur schwer zu ertragen", begann der 93-Jährige seinen Vortrag. In der Tat waren viele seine Schilderungen, und auch die Fotos, die der Überlebende zeigte, zum Teil sehr drastisch. Von Leid und Tod, vom Verlust geliebter Menschen und vom Hunger, der laut Naor "ständiger Begleiter" war.

Geboren wurde er am 21. März 1928 im litauischen Kovno (Kaunas) als Abba Nauchowicz. Zu dieser Zeit lebten in Litauen rund drei Millionen Menschen. "Für mich als Kind war es ein Paradies, denn obwohl Litauen streng katholisch war, lebten alle in Frieden miteinander, und jeder durfte seine Kultur und Religion frei ausleben". Das änderte sich schlagartig, als 1941 das Deutsche Reich die Sowjetunion angriff, die kurz zuvor das Baltikum besetzt hatte. "Von den 240000 litauischen Juden, darunter rund 60000 Kinder, blieben am Ende nur etwa 4 Prozent am Leben. Eines der 350 überlebenden Kinder war ich. "

Im August 1941 musste der 13-jährige Abba Naor mit seiner Familie in das von den Besatzern errichtete Ghetto Kaunas ziehen. 26 Menschen teilten sich dort eine Zweizimmer-Wohnung. Bald darauf wurde sein älterer Bruder Chaim ermordet, der trotz Verbots für die Familie Brot kaufen wollte. Das Leben im Ghetto, das später zum Konzentrationslager wurde, war geprägt von Angst, Demütigungen, Hunger und Gewalt. Immer wieder fanden "Selektionen" statt - zahlreiche Menschen wurden ermordet. 1944 wurde Kaunas geräumt, die Familie wurde ins KZ Stutthof nahe Danzig deportiert und dort getrennt. Abba Naor wurde Mitte August in das Dachauer Außenlager Utting verschleppt, das die Häftlinge selber aufbauen mussten. "Unser Alltag war geprägt von Hunger, Kälte und schwerer Arbeit", so Naor. Zwölf-Stunden-Schichten ohne Verpflegung, nur eine Jacke und eine Hose, egal ob Sommer oder Winter, schrecklich scheuernde Holzschuhe und katastrophale hygienische Zustände herrschten dort. "Viele von uns waren lebendige Leichen. Unser einziger Traum war es, endlich wieder einmal satt zu sein", erinnert er sich an diese Zeit, die er nur überlebt habe, weil er in dem Lager Freunde gefunden hatte, und man sich gegenseitig half, soweit es nur ging. Als ein Arbeitskommando für ein Lager in der Nähe von Landsberg am Lech zusammengestellt wurde, meldete sich Abba freiwillig, da er hoffte, dort seinen Vater wiederzufinden. Dieses Außenlager, Kaufering I, stellte sich als eines der Außenlager mit den schlimmsten Lebensbedingungen heraus und seinen Vater fand er dort nicht. Ende April 1945 schickte die SS tausende Häftlinge aus Kaufering, unter ihnen auch Abba Naor, auf einen Todesmarsch nach Dachau und dann weiter Richtung Süden. Am 2. Mai wurde er schließlich in Waakirchen bei Bad Tölz von Einheiten der US-Armee befreit.

"Ich werde häufig gefragt, ob ich gläubig bin", so Naor. "Damals habe ich mich oft gefragt, wo Gott war, als ich ihn gebraucht habe, aber er war nicht da. Ich kann also jeden nur beneiden, der glauben kann. " Ihm sei bewusst, dass seine Geschichte nur schwer zu ertragen sei, "aber leider habe ich keine andere", sagte Naor am Ende seines Vortrages.

Inzwischen habe er aber seinen Frieden gemacht und ein gutes Leben geführt, ebenso wie seine zahlreichen Nachkommen, die es, wenn es nach den Nazis gegangen wäre, gar nicht geben dürfte. "Deutschland ist meine zweite Heimat geworden", betont Abba Naor, und wies auf den jüngsten Besuch des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in Israel hin. Im Fernsehen habe er gesehen, wie sich Steinmeier und der Israelische Staatspräsidenten Reuven Rivlin umarmten. "Und was mein Präsident darf, das darf ich auch". Im Anschluss beantwortete er noch viele Fragen der Neunklässler, die von dem authentischen Zeitzeugenbericht sichtlich beeindruckt waren.

tis