Nürnberg
Luthers Gesicht und die Wahrheit

Forschungsprojekt nimmt sich mit modernster Technik 20000 Porträts des Reformators vor

29.05.2018 | Stand 23.09.2023, 3:22 Uhr
Jutta Olschewski

Nürnberg (epd) Man sollte meinen, dass in der Lutherdekade Wissenschaftler zu Themen um den großen Reformator jeden Stein umgedreht haben.

Nein: am 1. Juni beginnt ein neues großes Forschungsprojekt, das Lutherporträts so genau wie niemals zuvor anschaut.

Daniel Hess und Anselm Schubert wirken ein wenig wie Kriminalkommissare, die auf neue Indizien in einem alten ungelösten Fall gestoßen sind. Voll Begeisterung erzählen der Kunsthistoriker und der Kirchengeschichtler, wie sie einem Künstler und seinem Motiv auf der Spur sind. Der Künstler ist Lucas Cranach der Ältere (1472-1553), das Motiv der Reformator Martin Luther.

Mit Hilfe der neuesten Technik digitaler Mustererkennung und physikalischer Analysen wollen der Stellvertreter des Generaldirektors des Germanischen Nationalmuseums, Hess, und der Professor am Lehrstuhl für Neuere Kirchengeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen, Schubert, demnächst Licht in ein kunsthistorisches Durcheinander bringen, das sie selbst ausgemacht haben. Geklärt werden soll, welches Lutherporträt wann entstanden ist. Diese Untersuchungen sollen in einen kritischen Katalog der Lutherbildnisse von 1519 bis 1522 münden.

"In manchem Saal mit Kunst aus der Zeit der frühen Reformation wird es kahl werden", sagt Schubert voraus und sieht schon Museumsmitarbeiter weltweit Lutherbildnisse in andere Säle umhängen. Und auch manches Standardwerk zum Image Luthers müsse dann mit anderen Augen gesehen werden, erwartet er. Die Frage, welche Bilder man als Quellen benutzen könne und welche nicht, stelle sich neu. "Man denkt, zu Luther ist schon jeder Stein umgedreht worden, aber die Bildnisse hat noch keiner untersucht. "

Der Reformator Martin Luther (1483 bis 1546) war ein Medienstar. Von keinem Menschen seiner Zeit gibt es mehr Bilder. Aber auf die Datierungen von Luther-Porträts, sowohl der Gemälde als auch der Stiche, kann man sich überhaupt nicht verlassen, sind Hess und Schubert überzeugt. "Da kommt etwas in der Kunstgeschichte ins Rutschen", sagt Hess. Mit Erstaunen hat er festgestellt, dass man sich seit es die Kunstgeschichte als Wissenschaft gibt, immer auf Jahreszahlen und Datierungen auf den Werken verlassen und sie nie infrage gestellt hat. "Das ist doch Käse", schüttelt er den Kopf.

Wenn Lucas Cranach unter ein Porträt von Luther einst eine Jahreszahl schrieb: war es die Jahreszahl der Werksvollendung oder wollte er dem Bildbetrachter sagen: So sah Luther beispielsweise im Jahre 1522 aus? Um das herauszubekommen stehen nun die Naturwissenschaftler in Erlangen und an der Technischen Hochschule Köln mit ihren Apparaten bereit. Sie sollen 20000 Drucke, die Martin Luther darstellen, unter modernste Scanner legen, die das Alter von Holz, Farben, verwendeten Druckplatten und Papier genauestens bestimmen können. Aber sie erkennen auch haargenau die Schemata, die den Abbildungen zugrunde liegen. "Das sind Peanuts für sie, versichern die Computerfachleute", berichtet Schubert.

Der interdisziplinäre Ansatz des Forschungsprojekts und die geplanten Methoden hätten wohl dazu geführt, dass die Leibniz-Gemeinschaft für die kommenden drei Jahre den beteiligten Wissenschaftlern knapp eine Million Euro gibt, sagt Schubert. Offizieller Beginn der Arbeit ist am 1. Juni.

Von einer "neuen Akkuratesse" in der Chronologie der Luther-Abbilder erhoffen sich die Forscher auch Unterstützung in anderen Fragen. Wann setzte der "evangelische Heiligenkult" um Martin Luther in protestantischen Kirchen ein? Oder: ist das bekannte Bild von Luther als Junker Jörg zuvor ein Selbstbildnis von Lucas Cranach gewesen? In der zurückliegenden Lutherdekade sei der Forschungsertrag "gleich null" gewesen, kritisiert der Theologe. Ein paar Jahre nach dem reformatorischen Großereignis könnten er und seine Mitstreiter eventuell ein paar Ergebnisse nachreichen.

Jutta Olschewski