Ellingen
"Geiles Leben" trotz der Kälte

Glasperlenspiel überzeugen als Headliner beim Gutsfest in Ellingen - Festival für die ganze Familie

25.06.2018 | Stand 23.09.2023, 3:33 Uhr
  −Foto: Luff

Ellingen (HK) Die Premiere im vergangenen Jahr ist ein Versuchsballon gewesen - und sie kam an. Der Besucherzuspruch beim zweiten Gutsfest im Ellinger Schlosshof war nicht mehr so stark, statt fast 2000 Leuten kamen diesmal knapp 1200. Doch die, die es getan hatten, wurden nicht enttäuscht. Vor allem Glasperlenspiel hielten, was man sich von ihnen versprochen hatte.

Der Veranstalter Erik Scheffel (ES-Events) hatte diesmal gleich doppelt Pech: Zum einen ließen rechtzeitig zum Familienfestival in Ellingen die Temperaturen am Freitag zu wünschen übrig; nicht nur einige Besucher fröstelten ob der einstelligen Werte, auch Glasperlenspiel-Frontfrau Carolin Niemczyk - im bauchfreien Bühnenoutfit - fror bitterlich im Backstage-Bereich. Zum anderen hielt sich die Laufkundschaft an diesem Abend in Grenzen, weil ausgerechnet der Headliner schon im September wiederkommt - und zwar gratis. Glasperlenspiel treten beim Bayern-3-Dorffest in Bubenheim bei Treuchtlingen auf, rund zehn Kilometer entfernt.

Sei's drum, das Gutsfest-Konzept greift ohnehin weiter, ist eine Veranstaltung für die ganze Familie in ziemlich einzigartigem Ambiente. Im einen Teil des Ökonomiehofs des Barockschlosses unterhielt beispielsweise Andreas Schock als jonglierender Narr die Kinder, gab zudem Jonglage-Unterricht. Im normalen Leben lehrt er an der Fachschule für Heilerziehungspflege in Ebenried und gehört zum Team der Klinikclowns an der Rother Kreisklinik. Wer an den Foodtrucks vorbeimarschierte, wurde musikalisch unterhalten von den Straßenmusikern Etienne y Bagages oder von Strabande, die quasi nebenbei tolle Rhythmen boten. Im Ochsenstall - einem Gebäudeteil mit Kreuzganggewölbe, das in früheren Zeiten der Landwirtschaft diente - gaben sich die Künstler die Klinke in die Hand: Lokalmatador Michael Gabler brachte hier die Bodenbretter zum Beben, die Ska-Band Skaos verleitete die Besucher zum Tanzen und Pogen und nicht zuletzt der Singer-Songwriter Xavier Darcy, der Deutschland um ein Haar beim Eurovision Song Contest in Lissabon vertreten hätte, stellte unter Beweis, dass er beim Vorentscheid völlig zu Recht eine große Fangemeinde hinter sich bringen konnte. Nach Mitternacht rockte an selber Stelle übrigens Wlamir Kaminer am Plattenteller, die Russendisko war angesagt.

Der deutschsprachige Russe aus Berlin, einer der erfolgreichsten Schriftsteller des Landes, läutete mit einer Lesung den Abend auch ein. In unnachahmlicher Art: Das Gutsfest sei "eine unkonventionelle Veranstaltung", sagte er, weshalb auch er mal etwas Neues ausprobieren wolle. Denn normalerweise trage er aus erschienenen Büchern vor, schließlich diene das ja als Werbung. Im Ochsenstall wolle er jedoch "aus dem besten Buch meines Lebens" vorlesen, seinem 25. Werk, das erst im September erscheinen werde. Und so griff er in einen Stapel zusammengetackerter Blätter, schmökerte kurz darin und fragte dann das Publikum, ob sie sich für das jeweilige Kapitel erwärmen könnten. "Die Kreuzfahrer", so der Titel des kommenden Buches, entwirft ein Panoptikum von Vertretern verschiedener Nationen und ihren Eigenheiten, wenn sie auf einem Kreuzfahrtschiff über die Meere tuckern. Engländer saufen, Nordländer wie Finnen tragen Sonnencreme so dick auf, bis sie selbst wie Eis aussehen. Und Russen tragen Ketten. Das sei schließlich schon Marx und Engels aufgefallen, als sie die die proletarische Revolution propagierten: "Sie haben nichts zu verließen - außer ihre Ketten." Mit seiner Frau Olga habe er einige Kreuzfahrten mitgemacht, erzählte Kaminer. Natürlich sei er fürs Unterhaltungsprogramm gebucht gewesen - der Urlaub, "den wir hauptsächlich an der Bar verbringen", sei demnach umsonst gewesen. Noch immer kämen jetzt derartige Einladungen, "aber ich brauche sie nicht mehr, das Buch ist fertig".

Der Kurzurlaub im Fränkischen Seenland fiel etwas kürzer aus als gedacht. Mit der Aussicht aufs Baden im Brombachsee hatte Veranstalter Scheffel das Ehepaar Kaminer gelockt, ursprünglich hatte Wladimir nämlich abgesagt, schließlich feierte Olga just an diesem Tag Geburtstag.

Ein Fest dürfte es für Lea-Marie Becker, Frontfrau der Band Lea, gewesen sein, dass die Zuhörer im Gutshof ihrer Aufforderung mitzusingen, so brav Folge leisteten. Im vergangenen Winter hatte sie mit "Leiser" einen Hit gelandet, doch noch zählt der erste musikalische Top-Act des Abends noch nicht zu den ganz Großen der Branche. Damit niemand bei ihren ruhig, melancholischen Songs außen vor bleiben musste, hatte sie sogar Textzeilen auf Pappe geschrieben - und schon funktionierte der Massenchor.

Das hatten Glasperlenspiel nicht nötig, das Elektropop-Duo hatte sich vier Musiker als Verstärkung auf die Bühne mitgebracht, wodurch ihre Songs wie "Ich bin Ich", "Nie vergessen" oder "Für immer" deutlich rockiger klangen als aus dem Radio bekannt. Nur nicht die Zugabe. "Geiles Leben" kam dabei gleich mehrfach, auch als Techno-Remix. Wem da im kühlen Gutshof nicht warm wurde...

Volker Luff