Thalmässing
"Gedenken allein wird in Zukunft nicht reichen"

Am 9. November mit Polizeischutz auf den Spuren jüdischen Lebens - Diakon Lothar Michel sieht die Kirchen in der Pflicht

10.11.2019 | Stand 23.09.2023, 9:23 Uhr
Auf Spurensuche gehen die Teilnehmer bei der Führung auf dem Marktplatz. −Foto: Karch

Thalmässing (HK) "Schön, dass Sie da sind, aber eigentlich schade, dass das nötig ist." Die Worte, mit denen Ursula Klobe am Samstagnachmittag die beiden Polizisten begrüßt, die auf dem Marktplatz Station bezogen haben, sprechen Bände. Dass 81 Jahre nach der Reichspogromnacht, die der Auftakt war für eine Welle der Gewalt gegen die jüdischen Mitbürger, eine VHS-Führung auf den Spuren jüdischer Geschichte in Thalmässing und das abendliche Gedenken an das Pogrom unter Polizeischutz stattfinden müssen, hinterlässt bei den Teilnehmern ein mulmiges Gefühl. Aber auch Zorn auf diejenigen, die heute mehr denn je Antisemitismus und Rassismus mit ihren Worten anschüren.

Der 9. November ist schon seit Jahrhunderten ein Schicksalstag in Deutschland, "und wer Gewalt ausüben will, der sucht sich einen besonderen Tag dafür aus", ist sich Ursula Klobe sicher. Auch der Attentäter von Halle habe sich im Oktober bewusst den Jom Kippur ausgesucht, das jüdische Fest der Sühne. Dass die AfD für ihren Landesparteitag in Greding ausgerechnet dieses Datum gewählt habe, zeuge zumindest von wenig Feinfühligkeit.

Los geht die Tour auf den Spuren jüdischen Lebens am Marktplatz, der seine heutige Form ab dem 17. Jahrhundert vor allem durch die Bautätigkeit von Juden erhalten hat. Zum ersten Mal schriftlich nachweisbar sind drei jüdische Mitbürger in Eysölden im Jahr 1419. Sie mussten im Jahr 26 Pfennig und eine Fastnachtshenne als Schutzgeld bezahlen. Wenn Juden die Erlaubnis bekamen, sich in einem Ort anzusiedeln, ließen sich das die Landesherren über Jahrhunderte immer teuer bezahlen. 1480 war die Zahl der Juden in Eysölden bereits auf 50 angewachsen. Ab diesem Zeitpunkt gibt es auch Nachweise, dass in Thalmässing Juden wohnten. Markgraf Albrecht Achilles förderte deren Ansiedlung gegen Schutzgeldzahlung, seine Nachfahren wollten sie aber nicht in ihrem Gebiet haben. Von 1542 bis 1582 war das Oberamt Stauf "judenfrei", wie Richter Hauck in seiner Chronik schreibt. "Die Ausschaffung, also die Vertreibung, gab es schon lange, nicht erst seit der Nazizeit", macht Ursula Klobe deutlich. Gründe dafür gab es viele: So habe man beispielsweise im 13. Jahrhundert den Juden unterstellt, sie würden die Pest verbreiten, weil sie selbst davon weniger betroffen waren. Das habe allerdings daran gelegen, dass die Juden, die ihre Gebete mit rituellen Waschungen verbinden, eine viel bessere Hygiene hatten.

Ab 1600 waren wieder Juden in Thalmässing ansässig, auch damals gab es wieder Vertreibungsversuche. Wie nachzulesen ist, haben sich "1610 schon wieder Juden in Thalmässing eingeschlichen". Bereits zwischen 1690 und 1696 wurde in Thalmässing die erste Synagoge gebaut. Dass Thalmässing im Jahr 1700 das Marktrecht verliehen wurde, förderte den Zuzug von Juden, denen andere Berufe als der Handel lange Zeit verwehrt waren. 1853 wohnten in Thalmässing 335 Juden, sie stellten damit ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Im Fürstbistum Eichstätt und im Herzogtum Pfalz Neuburg, zu dem beispielsweise Heideck gehörte, durften sich Juden nicht ansiedeln. So war Thalmässing für Juden, aber auch später für die oberösterreichischen Glaubensflüchtlinge, eine Enklave, in der sie leben durften.

1857 wurde die neue Synagoge in Thalmässing eingeweiht. Sie sollte nach dem Wunsch der jüdischen Bürger eigentlich ganz schlicht aussehen, eher wie ein Wohnhaus, musste jedoch auf Anweisung der Regierung ein würdiges Aussehen erhalten. Die Reichsverfassung von 1871 bedeutete für die Juden zumindest formal Gleichberechtigung, so dass sie auch in größere Städte ziehen konnten.

1938 gab es in Thalmässing keine jüdische Gemeinde mehr, nur noch neun Juden lebten hier, die Synagoge wurde nicht mehr genutzt. Sie wurde verkauft und als Getreidelager verwendet. Deswegen wurde sie in der Reichspogromnacht auch nicht zerstört. Aber die jüdischen Mitbürger, die zu der Zeit noch in Thalmässing wohnten, erlebten trotzdem Gewalt: Sie wurden geschlagen, Schaufenster wurden eingeworfen. Aus dem ehemals friedlichen Nebeneinander von Christen und Juden - 1877 war der Jude Moritz Schülein sogar Präsident alle Thalmässinger Vereine zur Ausrichtung des Landeckfests - wurden in den 1930er Jahren Anfeindungen, Gewalt und Vertreibung. "Mit übler Nachrede, die den Juden nur Schlechtes unterstellte, wurde der Nährboden dafür geschaffen", sagt Ursula Klobe. Die Namen derer, die in jüdischen Geschäften einkauften, wurden am Stürmerhäuschen auf dem Marktplatz öffentlich angeschlagen. Die Synagoge wurde später von der Gemeinde gekauft, als Turnhalle genutzt und 1972 wegen Baufälligkeit abgerissen.

Der Weg führt von den Spuren des jüdischen Lebens im Ort zum jüdischen Friedhof. Den betreten die Teilnehmer der Führung am Samstag, dem jüdischem Sabbat, aus Respekt vor diesem Feiertag nicht. Er ist 1832 von Mosche ben J. Heiddecker gestiftet worden als "ausdrückliches Geschenk und für immer und in Ewigkeit gegeben". Die Nazis zeigten aber keinen Respekt, warfen Grabsteine um oder zerstörten sie.

Auf Geheiß der Amerikaner mussten die Steine nach dem Krieg von ehemaligen SS-Mitgliedern wieder aufgestellt werden. Die Grabsteine sollen nun im Rahmen eines Leaderprojekts gesäubert und Inschriften restauriert werden. Auf dem Gedenkstein vor dem Friedhof sind die Namen der jüdischen Mitbürger zu lesen, die in Lagern umgekommen oder in den Suizid getrieben wurden.

Wie nah diese dunkle Zeit wieder gerückt ist, erleben die Teilnehmer der kleinen Lichterfeier am Gedenkstein für die Synagoge am Abend, als sie einen Blick auf das Polizeiauto werfen, das zur Bewachung im Hintergrund steht. "Dass das bei einer harmlosen Gedenkfeier nötig ist, zeigt, dass etwas nicht in Ordnung ist in unserem Land", sagt Ursula Klobe. Sie liest die Schilderung von Professor Meier Schwarz vor, der die Reichspogromnacht 1938 in Nürnberg erlebt hat. Er erzählt darin vom Überfall auf ihn und seinen Bruder, der Zerstörung des Mobiliars und der Gewalt . Das Schrillen der Hausklingel nachts um 2 Uhr hat ihn sein Leben lang verfolgt, sagt Meier Schwarz.

Zur Zeit grassiere in Deutschland ein Klima des Fanatismus' und der Gewalt. Anknüpfend an ein Zitat der Politologin Hannah Arendt macht Klobe deutlich: "Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt." Dazu brauche es alle in der Zivilgesellschaft. Der Aufruf von Willy Brandt "Mehr Demokratie wagen" sei zwar in einem anderen Kontext erfolgt, aber trotzdem heute aktueller denn je. Die Zivilgesellschaft müsse miteinander nach neuen Formen suchen, fordert Klobe.

Dass sich manche Juden nicht mehr trauen, ihre Kippa zu tragen und andere schon Deutschland verlassen hätten, stimmt Diakon Lothar Michel nachdenklich. Auch er nimmt Bezug auf das Attentat von Halle, auf ein sich ausbreitendes Klima der Angst und der Hetze. "Wir verneigen uns heute vor allen Opfern von Gewalt", fordert er Teilnehmer der Gedenkfeier auf.

Die "jetzigen Brandstifter am äußersten rechten Rand verhöhnen die Opfer und die Überlebenden der Schoa", sagt er und zitiert Zentralratspräsidenten Josef Schuster: "Diese Kräfte dürfen nicht noch mehr an Boden gewinnen." An die Adresse der AfD gewandt sagt er, dass man manche Sachen eben nicht äußern dürfe, weil aus Gedanken Worte und aus Worten Taten würden. Das Gedenken allein werde in Zukunft nicht mehr ausreichen, "wir müssen aufstehen und Position beziehen ", fordert Michel. Und sieht darin auch die Kirchen in der Pflicht.

Andrea Karch