Hilpoltstein
"Was schwierig war, ist nicht besser geworden"

Corona macht die Arbeit der Jugendämter komplexer - Manfred Korth und Nina Schöppner stellen sich den Fragen

13.05.2020 | Stand 02.12.2020, 11:21 Uhr
Geschlossene Schulen und Kitas haben nicht nur den Kontakt von Kindern zu Kindern minimiert, die Institutionen sind auch wichtige Partner für die Jugendämter, wenn es darum geht, Probleme frühzeitig zu erkennen. −Foto: Pedersen,dpa

Hilpoltstein - Auch wenn es mittlerweile einige Lockerungen gibt, ist die Gesellschaft immer noch weit vom Normalzustand entfernt.

 

Schulen und Kitas sind zwar nicht mehr komplett geschlossen, trotzdem sitzen immer noch viele Kinder zu Hause fest, viele Eltern sind noch in Kurzarbeit, das Geld ist knapp. Stresssituationen sind da nicht ausgeschlossen, die unter Umständen auch eskalieren können.

Das Kreisjugendamt in Roth, das schon vor dem Ausbruch von bei Konflikten in Familien geholfen hat, war in seiner Einsatzfähigkeit in den zurückliegenden zwei Monaten extrem eingeschränkt und ist es noch. Ein Umstand, der die Situation nicht leichter macht. Wir haben dazu Jugendamtsleiter Manfred Korth und Nina Schöppner (Fotos: Landratsamt) von der Koordinierenden Kinderschutzstelle (KoKi) befragt.

Wenn die Corona-Lage Eltern und Kinder auf engstem Raum zusammenzwängt, da ist es doch programmiert, dass Konflikte eskalieren und Kinder Gewalt oder Verwahrlosung erleben. Wie reagiert das Jugendamt auf diese Gefahr?
Manfred Korth/Nina Schöppner: Nicht zwingend! Die Corona-Lage schweißt viele Familien auch zusammen. Eltern und Kinder verbringen mehr Zeit miteinander und können dies auch genießen. Aber es kann auch passieren, dass Konflikte jetzt schneller eskalieren. Die Mitarbeiter sind mit bekannten Familien in Kontakt und stehen hilfesuchenden Familien weiterhin unterstützend zur Seite. Die Rückmeldungen der Familien waren zunächst tendenziell eher positiv. Viel Druck ist weggefallen. Viele Familien entdecken auch gerade ihre eigenen Ressourcen neu.

Hat die Zahl der Konflikte im Landkreis Roth zugenommen?
Korth/Schöppner: Stand heute: nein. Die Bearbeitung der einzelnen Konflikte ist jedoch komplexer geworden. Besonders deutlich im Bereich der Trennungs- und Scheidungsberatung. Normalerweise setzt man die "Streithähne" an einen Tisch, um direkte Kommunikation zu ermöglichen. Dies ist derzeit schwer möglich. Die neuen Wege sind deutlich zeitintensiver. In der Jugendgerichtshilfe kamen neben den sonst üblichen Delikten auch etwa ein Dutzend Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz hinzu. Im Heimwesen haben vor allem die Heime einen erhöhten Bedarf an Rücksprachen mit dem Jugendamt.

Hat sich die Situation dort, wo es schon vor Corona Probleme gab, verschlimmert?
Korth/Schöppner: Für manche Familien hat sich die Situation verbessert, da sie viel schöne Zeit zusammen haben. Sie fühlen sich entschleunigt. Für andere Familien hat sich die Situation dahingehend verschlimmert, dass sich bereits vorhandene Konflikte deutlich verkompliziert haben. Viele Eltern wachsen derzeit mit etwas Unterstützung an ihren Herausforderungen. Die finanzielle Situation bereitet vielen Familien derzeit große Sorgen. Daher häufen sich die Beratungen zu generellen finanziellen Unterstützungen oder den speziellen Corona-Finanzhilfen für Familien. In der Beistandschaft häufen sich auch die Anfragen wegen Unterhaltsreduzierung aufgrund von Kurzarbeit oder Entlassungen. Hier wird geprüft, ob die Unterhaltsverpflichtung gestundet, reduziert oder im Extremfall auf Null herabgesetzt werden muss. Entsprechend steigen auch die Anträge auf Unterhaltsvorschussleistungen, wenn der unterhaltspflichtige Elternteil den geschuldeten Unterhalt nicht mehr oder nur teilweise zahlen kann.

Ist es vermehrt zu Eskalationen gekommen?
Korth/Schöppner: Nein, aber was vorher schwierig war, ist natürlich nicht besser geworden. Im Bereich der Umgangskontakte versuchten manche Elternteile Corona als Grund zu nutzen, um den Umgang der Kinder zum anderen Elternteil zu unterbinden. Hier waren entsprechende Beratung und Aufklärung gefragt.

Wie erfährt das Jugendamt, dass Kinder in Gefahr sind?
Korth/Schöppner: Durch eine sogenannte Meldung. Jemand der sich Sorgen um ein bestimmtes Kind macht, wendet sich ans Jugendamt. Jeder Meldung wird mit Fingerspitzengefühl nachgegangen.

Wichtige Meldestellen sind da Schulen und Kitas. . .
Korth/Schöppner: Schulen und Kitas sind nicht geschlossen. Es gibt ein Betretungsverbot. Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher sowie viele andere Berufsgruppe stehen derzeit nicht im täglichen persönlichen Kontakt zu den Kindern. Sie wissen aber auch, bei welchen Familien sie genau hinhören müssen. Besorgte Nachbarn bekommen derzeit mehr mit als sonst und melden sich.

Ist es überhaupt erwünscht, dass Menschen aus dem Umfeld der Kinder Auffälligkeiten melden?
Korth/Schöppner: Das Jugendamt ist auf konkrete Hinweise angewiesen, wenn unklar ist, ob ein Kind gefährdet ist. Kinderschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und geht jeden an! Leider wird die Meldung einer möglichen Kindeswohlgefährdung auch missbräuchlich, zum Beispiel bei Nachbarschaftsstreitigkeiten genutzt. Wir hatten schon Meldungen, dass Kinder im Sommer kein Planschbecken haben. Bei einer Meldung muss es um sogenannte gewichtige Anhaltspunkte gehen. Was das genau bedeutet und ob das eigene ungute Bauchgefühl in einer bestimmten Situation schon auf solche Hinweise hindeutet, kann selbstverständlich nicht jeder genau einschätzen. Hier ist eine telefonische Beratung bei den Mitarbeitern im Jugendamt jederzeit möglich. Alle beruflich mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt stehenden Berufsgruppen haben beispielsweise die Möglichkeit auf eine anonyme Fallberatung durch eine ISEF, eine insoweit erfahrene Fachkraft. Hier kann anonym besprochen werden, ob die Bedenken zu einer Meldung mit Nennung des Familiennamens führen sollen.

Wie viele Hinweise auf mögliche Misshandlungen oder Vernachlässigungen von Kindern und Jugendlichen sind es in einem normalen Monat insgesamt, wie viele sind es aktuell?
Korth/Schöppner: Es gibt in Bezug auf Meldungen keinen "normalen" Monat. Enorme Schwankungen sind hier die Regel. Spitzen gibt es beispielsweise regelmäßig vor den Ferien. Im März 2019 gingen Meldungen über sieben Kinder ein. Im März 2020 Meldungen über acht Kinder.
Ist es noch möglich, in die Familien zu gehen oder ist die aufsuchende Jugendhilfe völlig zum Erliegen gekommen?
Korth/Schöppner: Selbstverständlich ist es den Mitarbeitern möglich, in die Familien zu gehen. Natürlich wird derzeit genau abgewägt, welche Anliegen telefonisch oder per Video oder bei einem Spaziergang an der frischen Luft mit den Familien angegangen werden können. In Fällen, bei denen diese Wege nicht zielführend erscheinen und ein persönlicher Kontakt gebraucht wird, findet dieser auch statt. Gerade wenn es darum geht mit den Kindern ins Gespräch zu kommen kann nichts den Face-to-Face-Kontakt ersetzen.

Wann wird eingegriffen? Wenn Gefahr für Leib und Leben droht?
Korth/Schöppner: Schon vorher! Bereits wenn nicht sicher ist, ob bei einem Kind Gefahr für Leib und Leben besteht, wird umgehend gehandelt. Dafür gibt es einen klaren Fahrplan durch strukturierte, verpflichtende Verfahrensweisen. Dazu gehört, dass jede Mitteilung geprüft und schriftlich dokumentiert wird, sich zwei Fachkräfte einen persönlichen Eindruck davon verschaffen, wie es dem Kind zu Hause geht, sich die Fachkräfte bei ihrer Einschätzung auf fundiertes sozialpädagogisches Handwerkszeug wie Einschätzungsbögen, Leitfragen oder Anhaltspunkte stützen sowie im Zusammenwirken mehrere Fachkräfte gemeinsam die Situation einschätzen und über Lösungswege beraten. Kinderschutz steht klar vor dem Schutz der Privatsphäre oder dem Datenschutz. Das gilt natürlich auch in Zeiten der Corona-Pandemie.
Wie schützen sich Jugendamtsmitarbeiter bei Hausbesuchen?
Korth/Schöppner: Mit Alltagsmasken für die Familien sowie FFP2-Masken und Schutzkleidung für die Mitarbeiter. Daneben gilt natürlich das Abstandsgebot und nach Möglichkeit findet der Großteil der Gespräche außen statt.

Haben Sie überhaupt genügend Schutzausrüstung?
Korth/Schöppner: Die Führungsgruppe Katastrophenschutz (FÜGK) des Landratsamtes versorgt uns mit der benötigten Schutzbekleidung.

Gibt es Telefonkonferenzen mit Betroffenen oder Video-Chats?
Korth/Schöppner: Ja diese Möglichkeiten wurden in den letzten Wochen bereits neu installiert und genutzt

Wie steht es um die Kontakte zu Problemfamilien? Ist bei Familien, in denen das Kindeswohl schon einmal in Gefahr war, die Aufmerksamkeit höher?
Korth/Schöppner: Die zuständigen Mitarbeiter sind mit den ihnen bekannten Familien im Kontakt. Auf diese Familien wurde aktiv zugegangen und es wurden gemeinsam Lösungen erarbeitet. Heute befinden sich 32 Kinder auf Hinwirken des Jugendamtes in der Notbetreuung in Krippe, Kindergarten oder Hort. Jeder Bezirks-Sozialpädagoge hat seine individuellen Wege und sucht so mit den Familien passende Lösungen.

Melden sich Kinder in Not beim Jugendamt?
Korth/Schöppner: Jugendliche selbst ja, Kinder durch Vertrauenspersonen.

Was ist mit Kleinkindern, die können sich ja schlecht selbst melden?
Korth/Schöppner: Hier hilft ein gutes Netzwerk, besonders sensibel auf die Kleinen zu schauen. Im Landkreis wird seit zehn Jahren im KoKi-Netzwerk mit wichtigen Berufsgruppen aus Gesundheits- und Jugendhilfe eng zusammengearbeitet, um Familien mit kleinen Kindern besonders früh zu unterstützen, damit Probleme gar nicht erst groß werden. Netzwerkpartner wie Kinderärzte, Erzieherinnen, Beratungsstellen etc. haben auch in Corona-Zeiten Kontakt zu Familien und haben die Kleinsten im Blick. In Kürze geht auf dem Geoportal des Landratsamtes eine Übersicht der Unterstützungsformen vieler KoKi-Netzwerkpartner in Corona-Zeiten online.

Stehen Dolmetscher parat, wenn sich Kinder melden, die kaum Deutsch sprechen?
Korth/Schöppner: In der Regel gelingt es im persönlichen Kontakt auch ohne Dolmetscher Problemlagen gut anzusprechen. Wird ein Dolmetscher benötigt, wird natürlich einer hinzugezogen.

Was passiert, wenn die oder der Erziehungsberechtigte an Corona erkrankt?
Korth/Schöppner: Da kommt es natürlich auf die genauen Umstände der Erkrankung an. Es ist ein Unterschied, ob die Familie zu Hause unter Quarantäne steht oder ob der alleinerziehende Elternteil coronabedingt ins Krankenhaus muss. Dies ist aber für ein Jugendamt auch keine unbekannte Situation. Auch vor Corona kam es vor, dass Erziehungsberechtigte aus verschiedensten Gründen (Klinikaufenthalt, Gefängnis, plötzlicher Tod. . . ) nicht mehr verfügbar waren. Dann wird zum Wohle des Kindes zuerst im näheren Umfeld des Kindes z. B. mit Großeltern oder Paten eine Lösung gesucht. Ist dies nicht der geeignete Weg stehen Bereitschaftspflegefamilien zur Verfügung. Vor Corona genau wie während oder durch Corona.

Hat das Jugendamt genügend Mitarbeiter?
Korth/Schöppner: Im Jugendamt arbeiten 53 Mitarbeiter. Manche Bereiche haben derzeit ein erhöhtes Arbeitsaufkommen wie die Kita-Fachaufsicht. In anderen Bereichen geht es weniger rasant zu. Alle anfallenden Aufgaben werden abgearbeitet. Die einzelnen Bereiche unterstützen sich gegenseitig. Da wo Hilfe benötigt wird, packen alle mit an.

Hat es Corona-Fälle im Jugendamt gegeben?
Korth/Schöppner: Nein, bisher nicht.

Verbessern die aktuellen Lockerungen die Situation oder haben sie nur wenig Effekt?
Korth/Schöppner: Sie sorgen erstmal für Unsicherheit bis sich die Neuerungen eingespielt haben. Bereits während der Pressekonferenz in der vergangenen Woche stieg das Anrufer-Aufkommen auf der (09171) 811444, unserem Bürgertelefon für Fragen zur Notbetreuung. Vielen Eltern wird die Öffnung der Spielplätze helfen. Und mit der steigenden Zahl der Kinder, die zurück in die Betreuung kehren, steigt die Entlastung der dazugehörigen Eltern. Für das Jugendamt bedeuten Änderungen - egal in welcher Form - immer zuerst einmal erhöhte Anfragen von Einrichtungen und Eltern.

HK

Die Fragen stellte Rainer Messingschlager