Roth
Ballonflucht in die Freiheit

Günter Wetzel erzählt in der Rother Kulturfabrik von der spektakulären Aktion vor 40 Jahren

15.02.2019 | Stand 23.09.2023, 5:58 Uhr
Günter Wetzel ist 1979 die spektakuläre Ballonflucht aus der DDR geglückt. In der Kulturfabrik schildert er die dramatischen Umstände. −Foto: Fischer

Roth (HK) Ihre spektakuläre DDR-Flucht im Heißluftballon hatte 1979 für Aufsehen gesorgt. Am Donnerstagabend erzählte Günter Wetzel, einer der damals geflüchtet ist, in der Rother Kulturfabrik die Hintergründe und gab tiefe Einblicke in ein filmreifes Drama.

Sie ist wohl eine der bekanntesten und zugleich unglaublichsten Fluchtgeschichten in der DDR-Geschichte. Zwei Familien bauen mehrere Monate lang heimlich einen riesigen Heißluftballon und setzen sich damit eines Nachts in den Westen ab. Hollywood verpackte die Geschichte 1981 in einen Actionfilm. 2017 ließ Regisseur Michael "Bulli" Herbig das Schicksal der Familien Wetzel und Strelzyk erneut aufleben. Sein Film "Ballon" lockte bis heute fast eine Million Zuschauer in die Kinosäle. Anlässlich des Erfolgs tourt Günter Wetzel derzeit mit einem Vortrag über die Hintergründe durch Deutschland. Eine Station ist die Rother Kulturfabrik.

Schon früh musste Günter Wetzel lernen, was es bedeutet, in einer Parteidiktatur aufzuwachsen. Die Freiheit endete nicht nur an der Mauer. Westfernsehen war verboten, in den Westen zu reisen ebenfalls und für die falschen Politikerwitze drohte Gefängnisstrafe. Auch seinen Plan, nach dem Abitur Physik zu studieren, machte ihm die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) zunichte. Der Grund: sein Vater war vor vielen Jahren in den Westen geflohen.

So stand für Wetzel schon als Student fest, dass auch er die DDR verlassen muss, doch die entscheidende Idee kam ihm erst, als er selbst schon eine kleine Familie mit Frau und zwei Kindern hatte. Eine Bekannte brachte als Geschenk einen Bildband vom Ballonfestival in New Mexico mit. Für Wetzel die zündende Idee. Er wollte mit dem Heißluftballon fliehen. "Stoffsack, heiße Luft rein, was soll da schon passieren?", dachte sich der damals 24-Jährige.

Neben der eigenen Familie weihte Wetzel lediglich die befreundete Familie Strelzyk in die Pläne ein. Wochenlang saß er an der Nähmaschine und fügte 1800 Kubikmeter Stoff zusammen. Der Korb bestand aus dünnem Stahlblech, Teppichboden und Wäscheleinen. Aus Wasserleitung, Ofenrohr und Gasflaschen bastelte Wetzel den Brenner.

Doch bei heimlichen Versuchen in der Nacht stellte sich heraus, dass das Material zu luftdurchlässig war. "Also habe ich mich an einen neuen Ballon gemacht", berichtet Wetzel. Der "Brockhaus der Physik" half dem 24-Jährigen bei neuen Berechnungen. Um die beiden Familien auch tragen zu können, müsste der Ballon mindestens 2200 Kubikmeter groß sein, so die neue Erkenntnis. Nach weiteren sechs Wochen entstand das neue Model. Für die schnelle und effektive Befüllung mit Luft baute Wetzel den Motor seines Motorrads aus und bastelte ein Gebläse. Die neue Berechnung zahlte sich tatsächlich aus. Bei einem weiteren nächtlichen Versuch auf einem abgelegenen Feld ließ sich der Ballon innerhalb von wenigen Minuten mit Luft befüllen und richtete sich auf. "Da habe ich heute noch Gänsehaut, wenn ich an diese riesige Leuchtkugel denke", sagt Wetzel.

Kurz vor dem geplanten Flug in die Freiheit, stiegen er und seine Familie aus. Grund dafür waren plötzliche Zweifel an der Sicherheit und Meinungsverschiedenheiten mit der Nachbarsfamilie Strelzyk. Die trat die Flucht dann alleine an. Doch der Ballon saugte sich mit Wasser voll und landete mitten im Sperrgebiet der DDR. Der Fluchtversuch blieb zunächst unentdeckt, die Familie schaffte es zu Fuß zurück. Erst einige Wochen später fand ein Jäger den zurückgelassenen Ballon.

Spätestens jetzt war die Staatssicherheit (Stasi) auf den Fall angesetzt. "Ich habe die Größe noch einmal neu berechnet und bin wieder in das Projekt eingestiegen", sagt Wetzler. Für den neuen Ballon benötigten sie über 4000 Kubikmeter Stoff. Während die Volkspolizei in der Zeitung um Zeugenhinweise bat und sich der Fluchtversuch herumgesprochen hatte, reisten die beiden Familien durch die gesamte DDR und kauften abwechselnd in verschiedenen Stoffläden kleine Mengen. "Wir wussten, dass uns die Zeit davonläuft", so Wetzel. Also ließ er sich wegen Magenschmerzen krankschreiben und nähte den ganzen Tag die insgesamt 200 Kilogramm Stoff zusammen.

Am 16. September 1979 war es soweit. Der Wetterdienst meldete ideale Bedingungen. Nachts um 1.30 Uhr bereiteten die beiden Familien - vier Erwachsene und vier Kinder - den neuen Ballon vor, doch um ein Haar wäre der Fluchtversuch erneut missglückt. Beim Durschneiden der Befestigungseile löste sich ein Anker zu früh und der Ballon geriet in Schieflage. Das Feuer des Brenners griff auf den Stoff über und der Ballon stand am unteren Ende in Flammen. "Zum Glück hatte ich einen Feuerlöscher dabei und konnte schnell löschen", erinnert sich Wetzel.

Nach dem Zwischenfall hob der Heißluftballon ab. Mit acht Menschen auf einer 0,8 Millimeter dünnen Stahlplatte stieg er auf 2000 Meter Höhe. Wegen der Kälte - es herrschten acht Grad Minus - ging plötzlich der Brenner aus. Der Ballon begann zu sinken. "Von oben sahen wir die Grenze nicht, wir wussten nicht, wo wir genau waren", sagt Wetzel während er Bilder von damals auf der Leinwand zeigt. In einem Gebüsch direkt neben einem Fichtenwald kam der Korb mitsamt Besatzung schließlich unsanft auf. aber wo waren sie gelandet? Erst die Aufschrift "Überlandwerk Naila" auf einem Hochstrommast brachte die Gewissheit.

Die Flucht war gelungen. Sechs Tage später, so erfuhr Wetzel im Nachhinein, und die Stasi wäre ihnen auf die Schliche gekommen. Insgesamt 2400 Seiten umfasst die Stasi-Akte. Für die beiden Familien war die Landung in Oberfranken der Start in ein neues Leben. Den originalen Heißluftballon schenkten sie damals der Stadt Naila, als "Zeichen ungebrochenen Willens zur Erlangung der Freiheit". Nach der geglückten Flucht gab es insgesamt 50 Versuche mit dem Ballon aus der DDR zu fliehen. Kein einziger gelang.

Simon Fischer