Nürnberg
Auf ein paar Euro mehr in der Tasche hoffen

Wie viel Altersarme wartet der Nürnberger Alfred H. auf die Grundrente - Miete frisst Großteil der Grundsicherung auf

23.03.2020 | Stand 02.12.2020, 11:41 Uhr
Seinen Jutebeutel hat Ali immer dabei, um Futter für Tiere griffbereit zu haben. −Foto: Pelke

Nürnberg - Ein paar Euro: Mehr Geld hat Alfred H. als "Mini-Rentner" pro Tag nicht zum Leben. Dabei bekommt der 72-jährige Nürnberger bereits Grundsicherung im Alter. Jetzt hofft Alfred - den alle, die ihn kennen, nur Ali nennen - auf die neue Grundrente. Aber die bekommt nicht jeder.

 

Mit Hut und Jacke hockt Alfred in seiner kleinen Ein-Zimmer-Wohnung im Nürnberger Norden. "Ich heize eigentlich nie", sagt der 72-Jährige und reißt wie zum Beweis das Fenster auf. Weil die Wohnung immer kalt bleibt, habe ihm der städtische Energieanbieter kürzlich nach dem Jahreswechsel 150 Euro zurückerstatten wollen. "Das Geld habe ich nie gesehen", sagt Alfred, da das Amt das Geld nach der Überweisung gleich wieder einkassiert habe. "Wer Grundsicherung im Alter bekommt, darf kein Einkommen haben", sagt Ali.

Er legt seine Finanzsituation in einer einfachen Rechnung offen auf den Tisch: "Ich kriege eine Rente in Höhe von 701 Euro. Davon zahle ich hier die Miete", sagt Ali und zeigt auf sein kleines Reich mit den wenigen Habseligkeiten. Die nackte Matratze liegt auf dem Boden, die Küchenzeile neben der Eingangstür hat schon bessere Tage gesehen. Dazwischen ragen Erinnerungen eines langen Lebens aus wild herumliegenden Kleidungsstücken und billigen Küchenutensilien hervor. "Das sind meine beiden Kinder", sagt Ali und zeigt auf das einfach gerahmte Familienfoto, das wie ein heller Kometenschein aus all dem Wirrwarr aus Bescheidenheit und Finanznot hervorleuchtet.

Für die Ein-Raum-Wohnung mit der Küchenzeile und dem kleinen Balkon im vierten Stock eines einfachen Mehrfamilienhauses muss Ali 410 Euro plus 35 Euro für die Heizung auftreiben. "Vom Grundsicherungsamt bekomme ich monatlich 120 Euro dazu. Unter dem Strich bleiben mir zum Leben rund 370 Euro übrig. Das sind zwölf Euro und ein paar Zerquetschte pro Tag", sagt Ali und erzählt, dass er manchmal nicht wisse, wie er das Geld für einen Fahrschein auftreiben solle. "Früher durfte man als armer Rentner mit Grundsicherung noch einen Kinderfahrschein lösen. Heute müssen wir gleich eine Monatskarte für 30 Euro bei den städtischen Verkehrsbetrieben kaufen", sagt Ali und fragt, wie er sich von dem restlichen Kleingeld, das ihm pro Tag noch übrig bleibe, auch noch gesund ernähren solle.

Nachdenklich öffnet er ein Briefkuvert mit der letzten Stromrechnung. Der kommunale Energieversorger hat schlechte Nachrichten. Der Abschlag für Energie aus der Steckdose wird auf 38 Euro im Monat erhöht, liest Ali vor und blickt sich verlegen in seiner Mini-Wohnung um, fast so, als ob er darin etwas zum Versetzen sucht.

Während der Regen draußen prasselt, erzählt Ali von seiner letzten Begegnung mit dem Amt für Existenzsicherung an der berüchtigten Nürnberger Frauentormauer. Die nette Dame hinter dem Schalter habe ihm geraten, nach Thailand auszuwandern. Dort könne er besser leben. Neue Winterschuhe seien ihm bei der Gelegenheit nicht bewilligt worden, weil warme Füße nicht zum "eventuellen Mehrbedarf" gehörten. Geld für Schuhe seien in der Grundsicherung enthalten, habe ihm die Dame mit der zynischen Reiseempfehlung gesagt, bevor er auf seinen alten, durchgelaufenen Absätzen wieder kehrtgemacht hat.

"Die Grundsicherung finanziert im Prinzip nur die hohen Mieten", sagt Ali und erklärt, dass das am System der Grundsicherung im Alter liege, die nur den Regelsatz in Höhe von 432 Euro plus die "örtlich angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung" abzüglich der eigenen Rente gewähren würde. "Grundsicherung im Alter ist schlimmer als Hartz-IV", sagt Ali und streckt in seinen alten Relaxliegesessel die Füße aus. "Das ist mein einziger Luxus", sagt er und schaltet mit der auf dem Fußboden liegenden Fernbedienung den Fernseher an. "Den teuren Rundfunkbeitrag müssen wir immerhin nicht auch noch bezahlen", sagt Ali und macht die Flimmerkiste nach einem ernüchternden Ritt durch die bunten Kanäle wieder aus.

Eine Zeit habe er versucht, mit hartem Alkohol aus der Realität zu flüchten. "Mit einer günstigen Flasche Wodka kann man billig den Tag überstehen. " An den Hunger denke man mit ein paar Promille im Blut auch nicht mehr. Der Arzt habe ihm von seiner Wodka-Diät schnell wieder abgeraten. Seitdem trinkt er nur noch Tee und unternimmt endlose Spaziergänge. Ohne seinen Jutebeutel, den er sich quer über die Brust spannt, verlässt Ali selten das Haus. "Mein Futtertasche für meine Tiere habe ich immer dabei", sagt Ali und erzählt, dass er sich besonders um Krähen und Hunde kümmern würde. Ein paar treue Rabenvögel kämen jeden Morgen sogar pünktlich um 8 Uhr zum Krähen-Frühstück auf seinem Balkon vorbei.

Hin und wieder gehe er auch Gassi mit den Nachbarhunden. Als Dankeschön werde er dafür gelegentlich zum Tee im nächsten Supermarkt-Café an der Ecke eingeladen. "Eigentlich müsste ich mir für jeden Tee, den ich von netten Leuten spendiert bekomme, eine Quittung geben lassen, damit mir das Amt den einen Euro wieder abknöpfen kann", sagt Ali ohne den leisesten Funken von Bosheit oder Missgunst oder Bitterkeit in seiner warmen Stimme an diesem kalten Tag.

Im Februar hat der Bundestag die Grundrente beschlossen. Ali hofft, dass er dadurch ein paar Euro mehr zum Leben bekommt. Schon ab dem nächstem Jahr sollen rund 1,4 Millionen Menschen, die trotz langer Beitragszeiten nur wenig Rente bekommen, einen bescheidenen Aufschlag in Höhe von zehn Prozent auf den regionalen Grundsicherungsbedarf bekommen.

Genauso wie Ali dürften derzeit viele arme Rentner darauf setzen, bald ein paar Euro mehr in der Tasche zu haben. Allein in Nürnberg haben laut Auskunft des städtischen Sozialreferats im letzten Jahr genau 6292 Rentner eine Grundsicherung erhalten. Damit die finanziell hart gebetteten Senioren etwas besser (über)leben können, hat Nürnberg an diese Gruppe im letzten Jahr über 39 Millionen Euro an Bundesmitteln verteilt. Bald dürfte dieser Posten um bis zu zehn Prozent ansteigen.

Die Kosten der Grundrente schätzt die Bundesregierung auf rund 1,4 Milliarden Euro pro Jahr. Tendenz steigend: Denn bald dürften noch mehr Menschen wie Ali im Alter in Deutschland mit Geldproblemen zu kämpfen haben. Die Bundesregierung erwartet, dass die heutige Generation aufgrund heterogener Erwerbsbiografien noch stärker von Altersarmut betroffen sein wird.

Jeder arme Rentner soll freilich nicht die neue Grundrente erhalten. Der Leistungsgedanke soll bestehen bleiben. Nur wer mindestens 33 Jahre "Grundrentenzeiten" vorweisen kann und stetig in die Rentenkasse einbezahlt und vielleicht noch Kinder groß gezogen oder Angehörige gepflegt hat, dem soll die Rente um den kleinen Zuschlag von bis zu zehn Prozent des Grundsicherungsbedarfs erhöht werden. "Bei mir wird es ganz knapp. Aber vielleicht klappt es ja", sagt Ali und gesteht freimütig, die Hoffnung trotz der Dauerebbe im Geldbeutel nicht aufgegeben zu wollen.

Mit den paar Euro mehr im Monat aus der neuen Grundrente könnte sich Ali vielleicht schneller ein Paar neue Schuhe leisten. Und falls er leer ausgeht? Den Glauben an das Gute wolle er niemals nicht aufgeben. Dafür liebe er Leben und Freiheit viel zu sehr, sagt Ali und verschwindet mit Hut und Jacke in die Kälte. Zum Krähen füttern im Park.

HK