Eichstätt
Tiefe Sehnsucht nach "dem anderen"

Galerist und Buchhändler Christof Cebulla wirft einen ganz persönlichen Blick auf seine "1968er"

29.01.2019 | Stand 23.09.2023, 5:48 Uhr
Andere Zeit, andere Frisur: Christof Cebulla Anfang der 1970er-Jahre als Student in Eichstätt. −Foto: Cebulla

Eichstätt (EK) Lange Haare, die Beatles, Tabu-Brüche und Proteste - Christof Cebulla denkt gern an die Ära der "1968er" und deren Auf- und Umbruchstimmung zurück. Der in Eichstätt gut bekannte Galerist und rührige Buchhändler war damals 20 Jahre alt - in einem ganz persönlich gefärbten Vortrag im Gästehaus Sankt Walburg blickte er nun kritisch auf die nicht selten glorifizierten 68er Jahre zurück.

Seine Mutter weinte vor Kummer, als Christof Cebulla im Sommer 1967 ohne schwarzes Jackett, stattdessen lässigkühn mit gelockerter Krawatte und heller Jacke zur Abiturfeier ging: "Der Konflikt drehte sich weder um lange Haare noch um einen Bart, es ging einzig um die Farbe meiner Jacke, die zwischen meinen Eltern und mir einen tiefen Riss auslöste", erinnerte sich Cebulla gleich zu Beginn seines Vortrags und zeigte den Gästen das Foto eines brav in die Kamera lächelnden Abiturienten. Für die Eltern war es einfach "ungehörig", ohne schwarze Jacke zur Zeugnisverleihung zu gehen. "Die Intoleranz gerade im Hinblick auf Äußerlichkeiten war damals sehr groß", so Cebulla.

Doch die Zeit sei eindeutig reif für ein "neues Lebensgefühl" und einen neuen Geist gewesen, wie Cebulla beschrieb: "Etwas lag in der Luft, es war wie eine Gemengelage aus Spannung, Erregung und Verheißung. Die Musik! Die Beatles, mitsamt ihren unglaublichen Frisuren, unvorstellbar!" Die Beatles, denen die ganze Welt zu Füßen lag und die 1968 zu einem "Guru" nach Indien aufbrachen - dies habe sowohl Cebulla selbst als auch viele junge Katholiken, die sich in der Kirche immer weniger geborgen und immer unerträglicher eingeengt fühlten, beschäftigt: "Ich möchte diese Zeit - von heute aus betrachtet - als eine Zeit voller diffuser Sehnsucht nach dem anderen nennen", betonte Cebulla.

Hin- und hergerissen zwischen Tradition und neuem Zeitgeist, musste Cebulla im Oktober 1967 seinen Wehrdienst antreten, hörte in der Mannschaftskantine "If you're going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair" und fällte schon drei Monate später die Entscheidung seines Lebens: Die Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen. Der Zivildienst führte zu Konflikten mit seinen Eltern; die Heimleiterin des Altenheims in Selb, seiner Zivildienststelle, begrüßte ihn mit den Worten: "Auf solche wie Sie würden wir gerne verzichten." Und auf Cebullas verblüffte Nachfrage habe sie hinzugefügt: "Wer nicht bereit ist, wie jeder andere auch, ordentlich Soldat zu sein, hat damit zur Genüge seine Neigung zur Aufsässigkeit und Feigheit unter Beweis gestellt!"

Die Ereignisse überschlugen sich nach Cebullas Studienbeginn im Sommer 1968: Die Ermordung von Martin Luther King, das Attentat auf Rudi Dutschke, der "Prager Frühling" in der Tschechoslowakei unter Dub?ek, das Attentat auf Robert Kennedy im Juni - dies alles vor dem Hintergrund des grausamen Krieges in Vietnam und der Dauerhetze gegen Studenten: "Lasst Bauarbeiter ruhig schaffen -kein Geld für lang behaarte Affen!", so zitierte Cebulla einen der Standardsprüche dieser Jahre.

Die Faszination für das "Andere", das Liberale und Neue war groß. Der ungeheuerliche Gedanke, wie Hippies zu leben oder per Anhalter durch die Welt zu trampen, die auch bei Cebulla keimte, passte allerdings so gar nicht zum sozialen Hintergrund seiner bürgerlichen Freundin: "All die wilden Gestalten da draußen - ich fühlte mich ihnen weitaus näher als meiner Verlobten und meinen Schwiegereltern", erinnerte sich Cebulla. Nach der Trennung lebte er dann im Würzburger Germanistik- und Lateinstudium auf, als Chormitglied des Würzburger Theaters, wissenschaftliche Hilfskraft und Mitbewohner einer Kommune. "Und ich rauchte meinen ersten Joint", ergänzte Cebulla lachend. Er ließ auch in der Folgezeit nichts aus: Die Begründung einer Landkommune, zusammen "Familie sein", alles Geld zusammenlegen, gemeinsam in einem Raum schlafen, so dass vor lauter Experimentierfreude und Bewusstseinserweiterung das Studium völlig aus den Augen geriet. Jetzt war der Bruch mit seinen Eltern endgültig. Sie schrieben in einem feierlichen Brief: "Du bist nicht mehr unser Sohn. Seit Jahren sehen wir, wie mit deiner äußeren Verwahrlosung deine innere Verwahrlosung Hand in Hand geht."

Was aber nun machten die "1968er" - abseits der persönlichen Entwicklung - genau aus? "Sich in dieser Zeit als Sinn-Sucher zu versuchen, das lag geradezu in der Luft!", so erinnert sich Cebulla. Er habe "Siddhartha" von Hermann Hesse gelesen, als habe dieser das Buch für ihn geschrieben. "Bewusstseinserweiterung" - das war das Zauberwort, welches in jener Zeit beinhaltete, dass man sich an alles zugleich wagen konnte: "Für eine kurze Zeit war einfach alles möglich", so Cebulla. Flugblätter in der Universität verteilen, zum Protest gegen X und zum Aufruf für Y aufzurufen, für die Revolution sein - die sexuelle inklusive, das Neue Testament und zugleich das Kommunistische Manifest studieren, den Sinn suchen und sich die Köpfe heiß reden, was es in China mit der Kulturrevolution auf sich habe, kiffen, hitzig diskutieren und möglichst laute Musik hören.

Etwas nachdenklich blickte Cebulla dann abschließend noch einmal auf diese Zeit zurück, die sich bis heute einer gewissen Glorifizierung nicht entziehen kann: "Im Nachhinein erscheint mir diese Zeit seltsam ambivalent, heiß und kalt zugleich, wild und zahm, voller Unruhe und voller Fragen, die aber letztlich offen blieben, weil die lauten Parolen keine Antworten waren," erinnerte sich Cebulla. Die Sehnsucht blieb in weiten Teilen unerfüllt, die Sinnsuche erwies sich als schwierig: "Dass die Beatles nach Indien gingen, um - ja, um was? Das will ich immer noch wissen", schloss Cebulla schmunzelnd.

Dagmar Kusche