Eichstätt
Mikrogeschichte zum Anfassen

Facettenreicher Einblick in die Familien- und Sozialgeschichte einer dunklen Zeit

23.05.2019 | Stand 23.09.2023, 7:07 Uhr
Die Geschichte seines jüdischen Ururgroßvaters erzählt Joachim Mathieu auch in seinem Buch "Die großen Spuren des Sigmund Klein". −Foto: Luff

Eichstätt (EK) Er bezeichnete sich selbstironisch als "Schmalspurhistoriker" und bot doch einen ungemein dichten, akribisch recherchierten und spannenden Einblick in die Geschichte seiner eigenen Familie: Joachim Mathieu sprach am Mittwochabend auf Einladung der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte über die Spuren seines mutmaßlichen jüdischen Ururgroßvaters und die Folgen dieser Abstammung für seine Familie, die während der nationalsozialistischen Diktatur und der Entnazifizierung der Nachkriegszeit variable Überlebensstrategien entwickelte.

Sein Vortrag basierte auf seinem kürzlich erschienenen Buch "Die großen Spuren des Sigmund Klein".

Einen jüdischen Vorfahren im Stammbaum zu haben, stellte sich für Mathieus Urgroßvater und Großvater als ernst zu nehmendes Problem heraus, galt es doch für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die eigene arische Herkunft nachzuweisen, was durch eine Halb- oder Vierteljüdin als Ehefrau nicht möglich war. Verzweifelt muten daher die Versuche Karl Spönnemanns an, seine Stelle als Betriebsschlosser der Heil- und Pflegeanstalt Ansbach zu behalten und per Gnadengesuch in der NSDAP zu bleiben. Beides gelang ihm als Ehemann Helene Neumeyers nicht, denn sie galt als uneheliche Tochter von Sigmund Klein, dem Juden aus Bamberg, dessen Ehefrau Frieda später in Treblinka den Tod fand.

Schwiegersohn Alexander Mathieu ereilte das gleiche Schicksal wie Spönnemann selbst: Nach dem vernichtenden Bescheid aus Berlin, der sich auf alle Familienmitglieder bezog, kündigte er "freiwillig" seine Arbeitsstelle bei der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und trat auch aus der Partei aus, um das sonst drohende "parteigerichtliche Entlassungsverfahren" zu vermeiden. Es folgten weitere Schikanen. Dabei waren weder Spönnemann noch Mathieu und deren Gattinnen überzeugte Nazis, doch die damals übliche Mitgliedschaft in der HJ, dem BdM, der NSDAP oder der NS-Frauenschaft reichte nach dem Krieg aus, um Anklage gegen die Familienangehörigen zu erheben und sie immerhin der Gruppe der "Minderbelasteten" zuzuweisen. Akribisch sichtete Joachim Mathieu Briefe und Urkunden, Bescheide und Anklageschriften, Meldebögen und Persilscheine, mit denen man sich während der sogenannten Entnazifizierung gegenseitig zu entlasten versuchte: "Ich wusste, dass er Vierteljude ist, dass er und seine Familienmitglieder darunter zu leiden hatten", bestätigt ein ehemaliger Lehrer seinem Schüler Max Spönnemann, der von den Klassenkameraden drangsaliert wurde. Und Mathieus Opa Alexander ließ sich gar zu einer Urkundenfälschung hinreißen: Er datierte seinen Austritt aus dem öffentlichen Dienst um zwei Jahre vor, um so seinen Leidensdruck unter dem NS-Regime zu verlängern. Die Familienangehörigen von Mathieu waren weder Helden des Widerstands noch Stützen des Nazi-Regimes. Sie bewegten sich als einfache Leute irgendwo zwischen "Opfer" und "Täter". Doch gerade diese Normalität macht den Reiz der Alltagsgeschichte aus, die Mathieu durch seine Forschungen nachzeichnet. Immer wieder begegnen und überlagern sich hier "große" und "kleine" Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und fügen sich zu einem einzigartigen Mosaik zusammen, das auch einige Überraschungen bereit hält.

Seine Recherchen führten den Autor zum Beispiel zur Kontaktaufnahme mit einem entfernten jüdischen Verwandten in Florida, der als Kind mit Anne Frank spielte. Besonders pikant ist freilich die Frage, ob nun der rätselhafte Sigmund Klein, der 1920 in Berlin verstarb, tatsächlich Mathieus jüdischer Ururgroßvater war. Es gab nämlich 1893 einen Vaterschaftsprozess in Fürth, dessen Akten Mathieu einsehen konnte. Trotz der Verurteilung Kleins zur Zahlung von Alimenten bleiben berechtigte Zweifel an seiner Vaterschaft und damit auch an der jüdischen Abstammung Mathieus. Ein ansonsten unbekannter Schauspieler kam ebenfalls als Vater von Helene Neumeyer in Frage. Damit aber ist Joachim Mathieu entweder ein "Sechzehnteljude" oder ein "Sechzehntelschauspieler", wie er schmunzelnd bekannte.

Robert Luff