Eichstätt
"Joe Biden wird gut zu tun haben"

Interview mit USA-Kenner Michael Kleinherne angesichts des Angriffs auf die amerikanische Demokratie

08.01.2021 | Stand 16.01.2021, 3:33 Uhr
Sicherheitskräfte setzten Tränengas ein, nachdem Unterstützer von US-Präsident Trump das Kapitolgebäude gestürmt hatten, wo die Abgeordneten den Sieg des gewählten Präsidenten Biden bestätigen sollten. −Foto: picture alliance/dpa/ZUMA Wire | Probal Rashid

Eichstätt -Seit seinem Studienjahr in den USA 1989 ist der Eichstätter Schriftsteller und Uni-Dozent Michael Kleinherne beruflich wie privat regelmäßig in Kontakt mit Menschen jenseits des Atlantiks und fährt immer wieder für einige Wochen in die USA. So auch im August 2018. Deshalb war es für ihn selbstverständlich, am 6. Januar, dem Tag, an dem schließlich der Sieg des gewählten US-Präsidenten Joe Biden über Amtsinhaber Donald Trump durch die Mehrheit der Wahlleute formell bestätigt wurde, die geplante Zertifizierung des Wahlsieges zu verfolgen.

 

Herr Kleinherne, wie haben Sie die geplante Zertifizierung des Wahlsieges des Demokraten Joe Biden verfolgt?

Michael Kleinherne: Der Fernsehapparat lief schon sehr früh. Ich hatte den Sender CNN gewählt und habe alles von Anfang gesehen. Im ersten Moment wurden die Livebilder gezeigt, wie im Capitol die Stimmen gezählt wurden, wie die Abgeordneten diskutierten und Reden hielten, im nächsten Moment sah ich Leute, die außen die Treppen des Capitols erstürmten. Irgendwann ging es dann innen los.

Wie überrascht waren Sie, dass die Menschen so relativ leicht ins Capitol eindringen konnten?

Kleinherne: Ich war sehr überrascht. Es war ja bekannt, dass das Weiße Haus wie ein Bunker geschützt ist, aber anscheinend nicht das Capitol. Wobei im vergangenen Jahr bei den Demonstrationen der "Black Lives Matter"-Bewegung gleich zu Beginn die Nationalgarde aufmarschiert ist. Aber dieses Mal kam sie viel später und erst auf Veranlassung des Vize-Präsidenten Mike Pence. Donald Trump soll sich ja angeblich geweigert haben. Ich habe später im Internet Video-Aufnahmen gesehen, die zeigen, wie ein einzelner Polizist versucht, eine Gruppe Anstürmender aufzuhalten, sich aber dann zurückgezogen hat. In den USA weiß man ja nie, wer eine Waffe dabei hat. Auch wenn es in Washington D.C. offiziell verboten ist, als Privatmensch eine Schusswaffe mitzuführen. Was Waffenbesitz betrifft, sind die Amerikaner härter drauf als wir hier in Deutschland.

Wie haben es Ihre Bekannten und Freunde aufgenommen?

Kleinherne: Ich habe am Mittwoch gleich mit einem Freund telefoniert, den ich aus meinem Studienjahr in Michigan kenne. Er wohnt mittlerweile im Staat Washington. Er zeigte sich in unserem Gespräch tatsächlich weniger überrascht als ich über diesen Sturm aufs Capitol. Er und sein Umfeld hegen sogar die Befürchtung, dass es zu einer Art Bürgerkrieg ausarten könnte. Und er wohnt in einem ruhigen Ort an der Küste. Aber auch da fuhren während des Wahlkampfes und danach Trump-Anhänger in ihren riesigen SUVs durch die Straßen, teilweise offen bewaffnet, und haben die Menschen bedroht. Das ist schon eine andere Qualität als hierzulande mit der AfD und ihren Anhängern. Zum Glück für uns. Trotz der hässlichen verbalen Hetze und Bedrohung hier vor allem im Netz.

Wie war bei Ihrem Aufenthalt im August 2018 die Atmosphäre? Sie haben damals ja in Port Townsend, Washington, auch eine Lesung gehabt.

Kleinherne: Ja, ich bin damals die ganze Westküste der USA mit einem Mietwagen abgefahren - beginnend in Seattle und runter bis L. A. und wieder zurück. Das heißt, ich bin in Begleitung durch die Staaten Washington, Oregon und Kalifornien gefahren. Die Leute, die wir dort besucht haben, waren alle entsetzt über die Politik von Trump.

Hat das nicht auch etwas damit zu tun, dass Sie sich in akademischen Kreisen bewegen?

Kleinherne: Nicht unbedingt. Ich kenne Republikaner, die nicht unbedingt von Trump begeistert sind, aber dennoch republikanisch denken und wählen. Es hat nichts mit akademisch gebildeten Kreisen zu tun. Diese Bekannten kommen allerdings eher aus den Südstaaten. Dass die politische Haltung etwas mit dem Wohnort zu tun hat oder so in den USA auch gesehen wird, haben wir 2018 zu spüren bekommen: Unser Mietwagen hatte ein kalifornisches Kennzeichen. Und so sind wir auf dem Highway durch Oregon von einem Auto geschnitten worden, es wurde der Mittelfinger gezeigt. Als er vorbeigezogen war, haben wir hinten am Wagen ein Trump-Schild erkannt. Wir waren überrascht, denn niemand kann doch wissen, wer da am Lenkrad sitzt! Unsere Gastgeber meinten aber, die Trump-Anhänger hätten allein auf das Kennzeichen reagiert. Kalifornien gilt heutzutage als sichere Bank für die Demokraten. Dieser Vorfall war ja nichts Dramatisches. Aber bislang ist mir so etwas nie passiert.

 

Welche Chancen sehen Ihre Bekannten und Sie für Joe Biden, diese tiefen Gräben zu schließen?

Kleinherne: Nun, die politischen Überzeugungen sind sehr festgefahren. Hartgesottene Republikaner wird auch Joe Biden nicht auf die Seite der Demokraten ziehen können. Aber nicht alle Republikaner sind aggressiv drauf. Und es gibt eine Mitte, die bei Wahlen auch mal wechselt.

In Ihrem Roman "Der Mann auf dem Foto" erinnern Sie an die blutige Niederschlagung eines friedlichen Studentenprotestes im People's Park nahe der Berkeley-Universität im Mai 1969, als der damalige Gouverneur Kaliforniens und spätere US-Präsident Ronald Reagan, ein Republikaner, gleich die Nationalgarde rief. Und Sie erzählen vom wirtschaftlichen Niedergang der Autostadt Detroit ab den 70er-Jahren und den sozialen Folgen. Hat sich da nicht schon etwas gezeigt, was noch heute wirkt?

Kleinherne: Durchaus. Der Professor, der mich 1989 mit einem Stipendium an das College in Michigan geschickt hat, hat mir erzählt, dass er während seines Studiums in Kalifornien Ende der 60er-Jahre einmal verprügelt wurde, weil er die Haare etwas länger trug. Etwas länger, nicht lang. Und wer sich an Filme wie "Easy Rider" erinnert, weiß, dass damals auf Motorradfahrer geschossen wurde. Reagan und die People's Park Riots waren kein Einzelfall. Die Spaltung gab es schon immer. Unter Trump sind die Unterschiede und das Unversöhnliche sichtbarer und stärker geworden. Bei uns ist die Mitte der Gesellschaft breiter. In den USA ist der Graben zwischen den beiden Lagern größer.

Haben wir hier in Europa nicht auch ein verklärtes Bild der USA? Es funktionieren zwar die demokratischen Strukturen, aber die gesellschaftliche Wirklichkeit gibt doch nicht jedem die gleichen Chancen auf Glück und Erfolg im Leben.

Kleinherne: Das Geld spielt in den USA eine größere Rolle. Gerade in der Politik, und wenn man noch am Anfang steht. Zwar hat es bei Barack Obama auch Fundraising gegeben, also das Einsammeln von kleineren Beträgen zur Finanzierung des Wahlkampfes. Aber im Allgemeinen haben diejenigen die besten Chancen, die aus sehr gut situierten Familien stammen. Dasselbe gilt noch immer im Bildungssystem. Sogar an meinem College in Michigan, das nun keines der berühmten Elite-Colleges war, mussten meine amerikanischen Kommilitonen sehr viel Geld hinlegen. Insbesondere bei der schwarzen Bevölkerung ist der Besuch eines guten Colleges nur über Stipendien - die bekannten Sportstipendien - möglich. Und es beginnt in den Schulen. Die Privatschulen zahlen ihren Lehrkräften mehr Geld, es gibt kleinere Klassen, andere Betreuung als in den staatlichen Schulen. Deshalb hatte ja Bernie Sanders in seinem Wahlkampf-Programm die Forderung nach weitgreifenden Veränderungen im Bildungssystem. Also: Joe Biden wird gut zu tun haben, die Spaltung zu überwinden und sozialen Frieden herzustellen.

EK

Das Interview führte

Barbara Fröhlich.

ZUR PERSON
Michael Kleinherne, 1964 in Westfalen geboren, arbeitet nach Promotion und Auslandsaufenthalten als freier Autor und Journalist sowie als Dozent für Kreatives Schreiben, Englisch und Deutsch in Eichstätt und Ingolstadt. An der Universität Eichstätt-Ingolstadt leitet er das jährliche Festival LiteraPur. 2012 erschien "Drehpause. Erzählungen", 2014 "Daniel. Novelle", 2016 der Roman "Die Aktion - Zwei Wochen im August" und 2020 der Roman "Der Mann auf dem Foto".