Emsing
Erinnerungen an das Kriegsende in Emsing

Willibald Dirsch erlebte den Einmarsch der Amerikaner als Kind im Anlautertal mit

18.06.2020 | Stand 23.09.2023, 12:24 Uhr
Willibald Dirsch
  −Foto: Dirsch, Dorfchronik Emsing, Regler

Emsing - Es war im Sommer 1943, die Bombenangriffe der Alliierten auf die deutschen Großstädte häuften sich.

Da lautete ein Aufruf der Regierung: "Frauen und Kinder aufs Land! " Damals machte sich auch meine Mutter mit ihren drei Buben von Berlin nach Emsing auf, um bei Verwandten unterzukommen.

Dort gab es zwar noch keinen Kanal und kein Badezimmer, und jedes Haus hatte nur einen Kaltwasserhahn. Es war auch nur ein Telefon im Ort vorhanden, in der Poststelle im Gasthaus Dirsch, aber dafür eine relative Sicherheit, die Kriegshandlungen hatten das Dorf noch nicht erreicht. Die Landwirtschaft bestimmte das Leben. Auf den größeren Höfen, die Pferde oder Ochsen hatten, arbeiteten zumeist polnische Kriegsgefangene. Sie wurden wie die Dienstboten behandelt, konnten sich auch untereinander treffen, was offiziell verboten war. Die kleinen Landwirte - und das waren die meisten -, oft nur Frauen, mussten mit Kuhgespannen die steinigen Äcker bestellen. Es hatten fast alle Mühe, das Kontingent an Nahrungsmitteln zu erwirtschaften, das jeder Betrieb nach Vorschrift an den deutschen Staat abzuliefern hatte. Bei wiederholter Nichterfüllung des Solls wurde die Zwangsversteigerung des Hofes angedroht und in Einzelfällen sogar vollstreckt, wie es beispielsweise in Pfahldorf unter dramatischen Umständen geschehen ist.

Auch wir Kinder waren in die Kriegswirtschaft einbezogen. Wir mussten Heilkräuter sammeln wie Schlüsselblumen, Huflattich, Johanniskraut, Schafgarben und so weiter, zu Hause trocknen und dann in der Schule abliefern.

Gottesdienst für GefalleneDie größte Sorge machten sich die Menschen aber um ihre Söhne, Brüder und Väter an der Front. Immer wenn einer von ihnen "auf dem Felde der Ehre gefallen" war, wie es damals hieß, erlebten wir Kinder mit, wie das ganze Dorf erschrak und trauerte. In der Emsinger Kirche wurde dann vor der Kommunionbank ein Erdhügel wie ein Soldatengrab aufgeschüttet: mit Birkenkreuz und Stahlhelm, davor ein großes eingerahmtes Foto des Gefallenen in Uniform. Am Fuß-ende stand eine Pyramide aus drei Gewehren, das Ganze wurde von Blumen eingerahmt. Der "Heldengottesdienst" wurde sehr feierlich begangen. Es wurde ein lateinisches Requiem gesungen, meistens mit Fräulein Leimer als Solistin. Die Kirchenbesucher trugen ihre Sonntagskleider und die jungen Mädchen des Dorfes gingen in Schwarz und mit weißen Blütenkränzchen auf dem Kopf und nahmen geschlossen gleich hinter den Kindern in den vorderen Kirchenbänken Platz. Während der Wandlung wurde drei Mal Salut geschossen. Am Schluss wurde das Lied "Ich hat einen Kameraden" gesungen. Den Gottesdienst zelebrierte Pfarrer Georg Feihl.

Im Spätsommer 1944 kamen die ersten Frauen und Kinder aus dem Saarland ins Dorf, die vor der sich nähernden Westfront evakuiert wurden. Nach und nach kamen auch immer mehr Flüchtlinge aus Pommern und Schlesien und schließlich Sudetendeutsche und Egerländer. Auf dem Höhepunkt im Winter 1946 waren in Emsing mit damals rund 250 Einwohnern über 80 Flüchtlinge und Vertriebene untergebracht, sie wurden auf verschiedene Haushalte verteilt. Viele von ihnen waren im damals leerstehenden "Müllerfranzenhaus" (inzwischen abgerissen) untergebracht. In der Emsinger Schule wurden zu dieser Zeit von der 1. bis zur 8. Klasse 58 Kinder in einem Raum von einer Lehrerin unterrichtet.

Ab dem Sommer 1944 überflogen zunehmend amerikanische Bombengeschwader das Gebiet rund um Emsing. Bei schönem Wetter konnten wir die vielen hochfliegenden, silbrig glänzenden Maschinen beobachten, die in großen Pulks den Kirchberg in Richtung Süden überflogen.

Es muss Anfang März 1945 gewesen sein, als wir auf dem Heimweg von der Schule beobachteten, wie ein deutsches Militärflugzeug aus Richtung Herlingshart Emsing im Tiefflug überflog und, kurz nachdem es über dem Grafenberger Wald verschwunden war, auf einem Acker abstürzte. Über den Piloten hat man nie etwas erfahren.

In dieser Zeit kamen immer häufiger lange Kolonnen Kriegsgefangener die Grafenberger Straße hinunter, die von deutschen Posten in Richtung Altdorf oder Titting in neue Quartiere gebracht wurden. Darunter beobachtete ich einmal eine kleinere Gruppe englischer Offiziere, die einen Leiterwagen dabeihatten, der hoch mit Rotkreuzpaketen bepackt war. Auf der Straße nach Morsbach entdeckte ich in dieser Zeit deutsche Militärpolizei hinter Büschen versteckt, die dort auf Deserteure lauerte. Im Volksmund nannte man sie "Kettenhunde", weil sie ein halbmondförmiges Metallschild an einer Kette um den Hals trugen.

Errichtung von PanzersperrenÜberall wurden nun Panzersperren errichtet, so auch auf der sogenannten Neuen Straße nach Grafenberg direkt über dem alten Bierkeller vom Bräu. Diese Straße blockierte man, indem man zu beiden Seiten der Straße eine hohe Halterung errichtete, in die mehrere dicke Baumstämme quer zur Straße gelegt wurden. Über die sogenannte Alte Straße nach Grafenberg legte man einfach mehrere dicke Baumstämme quer. Das war die Aufgabe des Emsinger Volkssturms. Unterstützt wurde er dabei von einer ungarischen Einheit, die in Grafenberg stationiert war.

Ab April 1945 wurde Emsing immer häufiger von deutschen Militärkolonnen durchquert. Am 22. April wurde die Panzersperre auf der Neuen Straße geschlossen und dadurch vielen deutschen Einheiten der Rückzug versperrt. Deshalb mussten die Einheiten in der darauffolgenden Nacht die sieben Stämme von Hand durchsägen. Die Amerikaner fanden also eine geöffnete Panzersperre auf der Neuen Straße und eine versperrte Alte Straße vor.

Die Amerikaner kommenAm 24. April um die Mittagszeit hörte man, die Amerikaner seien schon in Grafenberg. Gegen 13.30 Uhr begaben sich viele Emsinger, darunter auch meine Mutter, meine Brüder und ich, in den großen Gewölbekeller des Pfarrhauses. Hinter diesem und in der Kirche hatte sich eine SS-Einheit postiert. Sie nahm die amerikanischen Panzer, die auf der Grafenberger Straße herabrollten, unter MG-Beschuss. Die Amerikaner schossen mit Panzergranaten zurück. Dabei bekam der Kirchturm einige Treffer und auch das Dach der Kirche war teilweise abgedeckt. Im Giebel des Pfarrhauses war ein großes Loch. Der Stadl der Obermühle, der im Schussfeld lag, wurde dabei in Brand gesetzt. Als wir aus dem Keller kamen, war er schon eingestürzt und die Emsinger Feuerwehr löschte mit der alten handbetriebenen Feuerspritze. Die SS-Soldaten waren getürmt. Die Amerikaner - der "Feind" - waren nun auch in Emsing.

Allgemein war eine gewisse Erleichterung zu spüren, weil endlich alles vorbei war. Es gab immer noch Leute, meistens Flüchtlinge, die an die Rückeroberung Deutschlands durch die Wehrmacht und an den "Endsieg" glauben wollten.

Der Einmarsch der Amerikaner bewirkte vorübergehend ein rechtliches Vakuum. Viele, die ein schlachtreifes Schwein hatten, schlachteten. Manche butterten sogar. Aber schon nach Kurzem wurde die strenge Lebensmittelbewirtschaftung eingeführt.

Für uns Kinder war es eine interessante Zeit. Wir hatten ein halbes Jahr keine Schule und auf den Feldern fand man oft von den Deutschen auf dem Rückzug weggeworfene Militärutensilien, wie Gewehre, Handgranaten, einmal auch eine Panzerfaust hinter der Kapelle bei der Anlauterbrücke. Vor allem aber viel Munition, mit der wir oft gefährlich experimentierten. So spannten wir Gewehrpatronen in einen Schraubstock, zogen die Kugel heraus, um an das Pulver zu gelangen, das dann mit großer Begeisterung abgefackelt wurde. Wie durch ein Wunder ist nie etwas passiert.

Die US-Soldaten waren immer hinter frischen Eiern her, die sie in ihren Stahlhelmen einsammelten und meistens mit Süßigkeiten bezahlten. Im Gasthaus Dirsch waren einige eine Zeitlang einquartiert. Dort sahen wir auch zum ersten Mal, dass man, um sich zu entspannen, die Füße auf den Tisch legen darf. Überhaupt beeindruckte uns die Lässigkeit der US-Boys, die selbst beim militärischen Appell rauchten, Kaugummi kauten und sich unterhielten, was bei der deutschen Wehrmacht völlig unmöglich gewesen wäre. Mehr noch aber war uns und auch manchen Flüchtlingsfrauen wichtig, dass die Soldaten ihre nur halbgerauchten Zigaretten wegwarfen. Wir lagen immer auf der Lauer und lasen sie auf, denn Tabak war damals ein willkommener Tauschartikel. Die Verständigung war schwierig. Offizielle Anweisungen wurden Bürgermeister Miehling von einer Flüchtlingsfrau mit dem Namen "von Nordbeck" übersetzt. Als die Schule im Oktober begann, kehrte allmählich wieder Normalität ein. An der Wand über dem Katheder in der Schule, wo lange ein Bild von Adolf Hitler angebracht war, hing wieder das Kreuz, das zwölf Jahre in eine Ecke verbannt worden war.

Übrigens: Eine junge Flüchtlingsfrau, die bei Kriegsende in Emsing einen amerikanischen Soldaten kennengelernt hatte und mit ihm in die USA gegangen war, kehrte nach über 60 Jahren auf ungewöhnliche Weise wieder zurück. Sie starb in den Staaten mit dem Wunsch, dass die Urne mit ihrer Asche auf dem Emsinger Kirchberg begraben wird. Das soll dann auch, in aller Stille, geschehen sein.

EK

Willibald Dirsch