Eichstätt
Künstlerin mit besonderen Gaben

Ein altes und abgenutztes Notizbuch beherbergt die Erinnerungen von Angelika Süss

16.09.2014 | Stand 02.12.2020, 22:14 Uhr

Die Künstlerin und Kunstlehrerin Angelika Süss blättert in ihren Erinnerungen. Zwischen den Seiten eines grau marmorierten Notizbuches bewahrt sie sie auf. - Foto: fmz

Eichstätt (EK) Das grau marmorierte Notizbuch mit den rot abgesetzten Ecken wirkt alt und abgenutzt. An manchen Stellen ist der Leim kaum noch in der Lage, die Seiten zusammenzuhalten, doch für seine Besitzerin ist es von unermesslichem Wert. In dem kleinen Buch stecken viele Erinnerungen. Unzählige Fotos wurden eingeklebt oder lose zwischen die Seiten gelegt, und jedes einzelne von ihnen erinnert an wertvolle Momente in ihrem Leben.

„Ein typisches Fotoalbum ist es aber trotzdem nicht“, sagt die Kunstlehrerin und Künstlerin Angelika Süss, während sie nachdenklich durch das Büchlein blättert, das sie als ihren größten materiellen Schatz bezeichnet. „Anfangs waren es nur einige Fotos, neben die ich den ein oder anderen Satz geschrieben habe, aber mit der Zeit sind es immer mehr geworden.“

Anfangs – das war vor mehr als drei Jahrzehnten, als Süss erst seit kurzer Zeit verheiratet war und ihrem Mann ein Geschenk machen wollte. Seit damals ist die Sammlung besonderer Erinnerungen von Jahr zu Jahr mit neuen Momentaufnahmen angereichert worden. „Dieses Bild hier ist für mich sehr berührend“, sagt die zweifache Mutter, während sie auf ein Foto deutet, das zwei Säuglinge zeigt, die sich anlächeln und an den Händen halten. „Das sind meine Zwillinge, und zwar genau in dem Moment, als sie sich zum ersten Mal gegenseitig wahrgenommen haben. Das war einfach unbeschreiblich schön.“ Noch ein paar Seiten blättert sie weiter, dann ist das Bild eines Hundes zu sehen, der in die Kamera blickt: „Das ist Gundel. Sie gehörte einem Bauern aus dem Dorf, hat uns immer besucht und wollte irgendwann einfach nicht mehr nach Hause gehen“, erklärt Süss. „Wir durften sie dann zum Glück behalten.“

Ein weiteres vergilbtes Foto, das sie zum Erzählen bringt, zeigt fünf junge Leute, die ins Gespräch vertieft auf den Jurahängen über Obereichstätt sitzen. „Das waren mein Mann und ich, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, gemeinsam mit Freunden“, sagt die passionierte Kunstlehrerin, ehe sie eine andere Seite aufblättert, auf der sie im Hochzeitskleid zu sehen ist. „Diesen Schritt habe ich nie bereut“, steht daneben geschrieben. Es ist ein Satz, der auch heute noch, viele Jahrzehnte später, nicht an Gültigkeit verloren hat.

Mittlerweile sind die Kinder, die in dem Notizbuch als Babys abgebildet sind, 30 Jahre alt, und Süss lebt gemeinsam mit ihrem Mann ein positives und sehr aktives Leben. „Wir haben ein ganz wundervolles Zuhause“, sagt sie. Ein schönes Haus, ein großer Garten und bald auch ein komplett verglastes Atelier, mit Blick in die Natur: „Besser könnte es kaum sein.“

Dass sie so empfinden könne, sei für sie ein ganz besonders großes Geschenk. „Das Notizbuch ist zwar mein materiell wertvollster Besitz, aber noch wichtiger sind mir andere Dinge, wie zum Beispiel meine Begeisterungsfähigkeit.“ So ist Süss etwa Feuer und Flamme für ihre Tätigkeit als Lehrerin, „den schönsten Beruf der Welt“, wie sie sagt, und auch ihre Begeisterung für Neues sieht sie als wertvoll an. „Ein Bekannter hat einmal zu mir gesagt, ich sei wie der Pawlowsche Hund. Man braucht mir nur den Ansatz einer neuen Idee vor die Nase zu halten und schon beginnt bei mir der Speichelfluss“, sagt sie schmunzelnd.

„Außerdem bin ich dankbar für meine Fähigkeit, Dinge ganz bewusst wahrnehmen zu können und vor allem für meine Erinnerungsbilder.“ Erinnerungsbilder – damit sind all jene Momente gemeint, die sich auch ohne Kamera für immer in ihr Bewusstsein eingebrannt haben. „Noch heute könnte ich aus dem Stand meine Mutter zeichnen, wie sie am Küchentisch sitzt. Mit ihr habe ich mich während meiner Studienzeit oft nächtelang unterhalten“, erklärt die begeisterte Malerin. „Oder wenn ich von meinem Haus in Richtung Spielplatz schaue, dann sehe ich oft meinen Vater vor mir, wie er gemeinsam mit seinem damaligen Hund den Weg entlangläuft. Um all diese Bilder vor Augen zu haben, brauche ich keine Fotos.“ Dass die geliebten Menschen, von denen sie spricht, nicht mehr am Leben sind, mache diese Gabe noch bedeutsamer, sagt sie, denn „in meinen Erinnerungsbildern sind sie immer bei mir“.

So auch ihr Onkel, der vor vielen Jahren als Rentner die Welt bereiste. Von ihm bekam Süss regelmäßig Steine geschenkt, die er von seinen Reisen mitbrachte. Sie sind heute gemeinsam mit anderen Andenken in ihrem Arbeitszimmer versammelt. Eine Postkarte ihres Vaters aus der Kriegsgefangenschaft gehört ebenso dazu wie Erbstücke der Großmutter und – als kuriose Besonderheit – ein Penisköcher aus Neuguinea als Reiseandenken. Jedes dieser Objekte erzählt Geschichten, die so bewegend sind wie das Leben, das Süss so wertschätzt – und sie alle sind ihr wichtig. „Ich bin dankbar für das, was mir widerfahren ist“, sagt sie mit Blick auf ihre kleine Sammlung lieb gewonnener Gegenstände. „Die Erinnerungen daran sind mein größter Schatz.“