Eichstätt
Auf der Suche nach Identität

Zum deutsch-französischen Tag stellte Corine Defrance Odyssee der polnischen Jüdin Françoise Frenkel vor

25.01.2021 | Stand 23.09.2023, 16:36 Uhr
Die Historikerin Corine Defrance, die zum deutsch-französischen Tag den Gastvortrag hielt, lehrt an der Pariser Sorbonne. −Foto: M. Ladan

Eichstätt - Es war ein hochkarätig besetzter Gastvortrag via Zoom, zu dem am deutsch-französischen Tag der Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft der Katholischen Universität und die kooperierende Université de Rennes/ Bretagne eingeladen hatten: Die Historikerin Corine Defrance, die an der Pariser Sorbonne lehrt, sprach über Françoise Frenkel, eine heute fast vergessene, aber ungemein mutige Frau mit jüdischen Wurzeln, die aus Polen stammte, im Berlin der Zwischenkriegszeit eine französische Buchhandlung betrieb, vor den Nazis nach Frankreich und in die Schweiz floh, im Herzen aber stets Humanistin blieb.

Mehr als 60 Zuhörerinnen und Zuhörer aus Deutschland und Frankreich nahmen an diesem Vortrag in französischer Sprache teil, der als Präsenzveranstaltung in Eichstätt wohl eher weniger Publikum gefunden hätte.

Defrance gilt als profunde Kennerin der deutsch-französischen Beziehungen und hat sich intensiv mit den dramatischen Lebensumständen von Françoise Frenkel (1889-1975) auseinandergesetzt. Christina Rüther, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Programmbeauftragte für den deutsch-französischen Studiengang, stellte die Referentin vor und zeigte zugleich den größeren Kontext der Veranstaltung auf: Die Unistandorte Eichstätt und Ingolstadt unterhalten Städtepartnerschaften mit Montbrison und Grasse, Rennes ist die Partnerstadt von Erlangen, zudem gibt es durch den binationalen Studiengang zahlreiche Kontakte in Forschung und Lehre zwischen Eichstätt, Ingolstadt, Erlangen, Rennes und Toulouse.

Die deutsch-französische Freundschaft lebt also und setzt sich auch auf der Ebene der Schulen und privater Initiativen fort, wie Françoise Wimmer, Vorsitzende des Vereins "Freunde von Montbrison", und Ulrike Huet von der FAFA Bretagne in ihren Grußworten betonten. Die FAFA (Fédération des associations franco-allemandes), von denen es in Frankreich bereits sechs regionale Organisationen gibt, koordinieren alle partnerschaftlichen Aktivitäten beider Länder, die einst als Erzfeinde galten. Der europäische Gedanke und das Eintreten für gemeinsame Werte stehen so im Zentrum der Begegnung zwischen Deutschen und Franzosen und weisen in die Zukunft.

Antisemitische Anfeindungen

Zwischen 1914 und 1945 konnte von einem derart freundschaftlichen Umgang zwischen den beiden Nachbarn hingegen keine Rede sein. Doch auch in Polen, wo Françoise Frenkel 1889 in der mittelgroßen Stadt Piotrków Trybunalski (bei Lódz) in einem jüdischen Viertel geboren wurde, begegneten ihr bereits antisemitische Anfeindungen. Schon als Kind lernte sie in Polen Französisch und flüchtete sich immer wieder in die Welt großer französischer Autoren. Zwischen 1910 und 1913 studierte sie Musik in Berlin und in Leipzig an der "Hochschule für Frauen". 1913 zog es sie dann nach Paris, wo sie Literatur studierte und eine Buchhändlerlehre absolvierte - ein damals für eine Frau eher ungewöhnlicher Beruf. Sie blieb acht Jahre in der französischen Hauptstadt und entwickelte sich dort zu einer wahren Büchernärrin.

Diese Leidenschaft führte sie 1922 wieder nach Berlin zurück, wo sie vier Jahre nach Kriegsende zusammen mit ihrem Mann Simon Raichenstein in der Passauer Straße ausgerechnet eine französische Buchhandlung eröffnete. Diese erste französische Buchhandlung Berlins führte sie bis 1939 weiter, obwohl ihr Mann bereits 1933 Deutschland verlassen hatte und sie die Anfeindungen der Nazis miterleben musste.

"La Maison du Livre français" entwickelte sich in den 1920er- und 1930er-Jahren zu einem Treffpunkt für die kleine frankophone Kolonie Berlins und die kosmopolitisch interessierten Intellektuellen. Regelmäßig lud sie auch französische Autoren zu Gastvorträgen ein.

Exil in Paris

Umso gravierender war der Einschnitt, den der 27. August 1939 in ihrem Leben hinterließ. Frenkel musste in einem von der französischen Botschaft organisierten Nachtzug Berlin und Deutschland verlassen und suchte zunächst in Paris Exil, während Nazideutschland Polen überfiel und in ihrer Heimatstadt ein jüdisches Ghetto errichtete. Von Paris aus ging es 1940 notgedrungen nach Nizza, wo sie bis 1943 blieb, aber ab 1942 einer großen Razzia nur knapp entging und untertauchen musste. Ihr Mann war inzwischen längst nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden. Am 26. Dezember 1942 wurde Françoise Frenkel beim Versuch, die Schweizer Grenze illegal zu übertreten, von der französischen Gendarmerie festgenommen und in Annecy inhaftiert. Im Juni 1943 gelang ihr aber die Flucht, und sie konnte sich in Genf niederlassen, wo sie sofort mit der Niederschrift ihrer Erlebnisse begann. Danach wurde es stiller um diese bemerkenswerte Frau. Ihr Buch erschien unmittelbar nach Kriegsende bei einem Schweizer Verlag, wurde aber kein Bestseller. Sie selbst ließ sich nach 1945 wieder in Nizza nieder, wo sie 1975 verstarb. 1950 wurde ihr die heiß ersehnte französische Staatsbürgerschaft gewährt.

All dies kann man seit kurzem in Frenkels Autobiografie "Nichts, um sein Haupt zu betten" (Originaltitel: "Rien où poser sa tête") nachlesen. Die deutsche Übersetzung erschien erst 2016 und bezeugt: Frenkels Buch ist ein beeindruckendes Stück Zeitgeschichte. Corine Defrance schöpfte für ihren Vortrag aber nicht nur aus diesem Buch. Sie durchforstete unzählige Archive und Bibliotheken und machte ihren Zuhörern über ihre Präsentation eine Fülle an Fotos und Originaldokumenten zugänglich, die das intellektuelle Profil einer mutigen Frau zeigen, die sich weder von den Wirren der Zeit noch von Barbarei und Vorurteilen unterkriegen ließ.

Rettungsanker

Sie war Jüdin und Buchhändlerin, Polin und Musikerin, fühlte sich in Deutschland, später aber vor allem in Frankreich heimisch. In ihrem bewegten Leben fand sie immer einen Rettungsanker: Die französische Literatur war ihre intellektuelle Heimat, wie sie selbst in einem Brief bekannte. Selbstbewusst gab sie bei ihrer Verhaftung als Beruf "Femme de lettres" an, was sich kaum ins Deutsche übersetzen lässt. Sie war eben eine schreibende Frau, Schriftstellerin, Bücherliebhaberin und Intellektuelle, die das Pech hatte, in die dunkelsten Jahre der europäischen Geschichte hineingeboren zu werden.

Corine Defrance gelang es, in ihrem brillanten Vortrag, der sich leider nur einem französischsprachigen Publikum eröffnete, die spannende Spurensuche nach einer echten Europäerin zu bieten. In der Diskussion brachte es Ulrike Huet auf den Punkt: Wir sollten im Jahr 2021 für ein humaneres Europa eintreten, in dem jeder sein Haupt in Ruhe betten kann, ohne Angst vor Verfolgung und Diskriminierung haben zu müssen.

EK


Robert Luff