Dietfurt
"Im Kinderdorf haben wir großes Glück"

Michael Kreitmeir berichtet dem Dietfurter Verein Von uns, für Kinder von der durch Corona veränderten Lage in Sri Lanka

02.06.2020 | Stand 02.12.2020, 11:15 Uhr
  −Foto: Kreitmeir

Dietfurt - Seit vielen Jahren unterstützt der Dietfurter Verein Von uns, für Kinder die Initiative Little Smile in Sri Lanka.

Diese wurde von dem Eichstätter Michael Kreitmeir begründet. Vor mehr als 20 Jahren eröffnete er sein erstes Haus für Waisenkinder. Seitdem ist Little Smile eine Erfolgsgeschichte (siehe eigenen Bericht). Mitte Mai wollte Kreitmeir persönlich nach Dietfurt kommen und über die Projekte und die Situation vor Ort informieren, doch auch hier kam die Corona-Krise dazwischen. Kreitmeir wandte sich mit einer E-Mail, die die Situation in Sri Lanka beschreibt, an den Verein. Mit eindrucksvollen Bildern unterstreicht er seinen Bericht:

"Covid-19 in Sri Lanka. Ich starre ungläubig auf den Tischkalender, zähle die Tage seit hier zum ersten Mal der totale Lockdown verkündet wurde. Ich war an diesem Freitag, 20. März, bis zum letzten Moment, also bis kurz vor 6 Uhr am Abend, unterwegs, um all meinen Leuten in den verstreuten Projekten Mut zu machen. Weggesperrt zu sein ist für die Menschen in Sri Lanka zwar bei Weitem nicht so ungewöhnlich, wie für die Menschen in Deutschland. Die letzte Ausgangssperre liegt nicht einmal ein Jahr zurück. Damals war es die Reaktion auf Bombenanschläge in Hotels und während der Ostermesse. Aber die Zwangsinternierung im eigenen Heim dauerte nie sehr lange, während diesmal kein Ende in Sicht ist.

Angst hat viele Gesichter, aber wenn man etwas, wie dieses Virus, einfach nicht greifen kann, entgleitet vielen Menschen der Bezug zur Realität, weil man den Feind nicht sehen, nicht riechen und zunächst ja nicht einmal spüren kann. Ich habe den Eindruck, dass niemand hier so richtig versteht, was das Ganze soll, warum selbst in entlegenen Gebieten Krankenhäuser leer geräumt werden, man sogar Schwerkranke ,entlässt', zum Sterben nach draußen jagt oder gleich gar nicht mehr aufnimmt um Platz zu schaffen für Coronapatienten. Jeder hat sich irgendein Tuch vor das Gesicht gebunden, meine Staubmasken aus der Gewürzfarm waren schnell verteilt. Es ist heiß, sehr heiß und zwar seit Wochen, Brandstifter scheren sich nicht um Ausgangssperren. Auch das Grundstück rund ums Bubenheim auf Hill Top hat gebrannt.

Ungläubig starre ich am Tag, vielmehr Abend, als wir und der Rest des Landes zum ersten Mal weggesperrt wurden, auf die aktuellen Zahlen der Infizierten, die automatisch jeden Tag auf jedes Handy geschickt werden: 19 Infizierte, zwei Erkrankte, eine Person vollständig genesen. 47 Tage später hat Sri Lanka 797 Infizierte bei angeblich nur neun Toten - und das bei mehr als 20 Millionen Menschen. Waren all diese drastischen Maßnahmen also völlig übertrieben oder haben sie uns vor dem bewahrt, was in anderen Ländern passiert ist, auch in meiner alten Heimat Deutschland? Stimmen diese Zahlen, wie viel wurde und wird getestet, was kann man glauben? Gerüchte, die in diesem Land allgegenwärtig sind, sprechen eine eigene Sprache. Jeder kennt jemanden, der angeblich infiziert ist, und Terroristen setzen Corona als Waffe ein und stecken andere an, so eine der vielen Geschichten hinter vorgehaltener Hand.

Im Kinderdorf haben wir großes Glück. Das Grundstück ist riesig, vielfältig, bietet sogar zahllosen wilden Tieren ein Rückzugsgebiet. Wir waren schon vor dieser Krise der Welt von eben dieser weitgehend unabhängig, eine Insel auf der Insel Sri Lanka. Vorräte haben wir genügend, auch Platz zum Toben, Spielen, Lernen, Lachen, Weiterleben, wie es im April 2020 wohl nur Wenigen vergönnt war.

Schon bei den ersten bekanntgewordenen Fällen hat die Regierung drastische Maßnahmen unternommen, um die Verbreitung von Covid-19 einzudämmen. Die Schulen haben seit Mitte März geschlossen und seitdem herrscht auch eine absolute Ausgangssperre, Zuwiderhandlungen werden hart bestraft. Das Reisen zwischen den Provinzen und Distrikten im Land ist untersagt, es gibt nur einige Sonderregelungen und Genehmigungen, damit die Grundversorgung im Land gewährleistet werden kann. Sri Lanka scheint Glück gehabt zu haben, man konnte aus den Fehlern in Europa lernen und hat es getan. Zudem kann in einem Land, in dem ein starker Mann das absolute Sagen hat, schneller und extremer reagiert werden. Diesmal schauen wir aus dem scheinbar sicheren Bergurwald Sri Lankas in ein Europa, in dem nur wenig noch so ist wie am Beginn des Jahres 2020. Mitfühlen zumindest, wenn man schon sonst wenig tun kann.

Und doch: Die Schatten, die dieses Virus bis in unsere entlegene Ecke der Welt wirft, verändern so viel, so gewaltig. Man muss gar nicht erkranken, ja nicht einmal infiziert werden, um zu leiden. Auch diesmal trifft es hier wieder die, die es immer zuerst erwischt, wenn etwas schief läuft. Zweimal jede Woche wird die Ausgangssperre von 6 bis 14 Uhr aufgehoben, damit die Menschen einkaufen können. Das anfängliche Gedränge der Maskierten hat inzwischen nachgelassen, den Arbeitern und Tagelöhnern ist längst das Geld ausgegangen. Man lebt hier nicht nur sprichwörtlich von der Hand in den Mund, Löhne müssen wir wöchentlich auszahlen, häufig sogar noch öfter. Die einfachen Menschen haben keine Rücklagen, nur überall Schulden. Sobald also die Ausgangssperre vorübergehend aufgehoben ist, pilgern die Hungrigen, Verprügelten, Verzweifelten an unser Tor. Es sind fast nur Frauen, gnädig verdecken die vorgeschriebenen Masken und Tücher bei vielen von ihnen die Spuren häuslicher Gewalt.

Gerade kommt eine Gruppe Kinder in unser Haupthaus, stolz bringen sie die eben gebastelte Laterne für uns. Anka und ich haben lange gewartet, dass eine Betreuerin oder eines unserer derzeit 98 Kinder selbst auf die Idee kommen würde, immerhin ist heute der größte buddhistische Feiertag Vesak. Geburt, Erleuchtung und Erlösung des Buddhas wird am Vollmondtag im Mai gefeiert und der fällt 2020 auf den 7. Mai. Nur scheint das wirklich niemanden zu kümmern, keine Umzüge, kein Zusammenkommen in feierlich geschmückten Tempeln, keine Laternen am Straßenrand. Mir fällt plötzlich ein ganz besonderes Vesakerlebnis ein. Es war 2005 auf der nächtlichen Rückfahrt aus dem Kriegsgebiet im Osten. Seit mehr als einer Stunde hatte ich kein Licht gesehen, nur gespenstischer Wald in das silbrige Mondlicht getaucht. Ich passierte zwei strenge Kontrollposten der Armee, man prüfte meinen Erlaubnisschein, auf dem stand, dass ich ein Krankenhaus baue in der Küstenstadt Kalmunai. Die Mienen wurden freundlicher, man wünschte mir sogar Happy Vesak, nachdem man mein Auto und mein Gepäck bis auf den letzten Winkel durchsucht hatte. Wenige Kilometer später dann auf der einzigen langen Geraden dieser sich durch den Wald schlängelnden Straße: Laternen, in denen Kerzen brennen, eine neben der anderen in allen Farben und auf beiden Seiten der Straße, Lichter, so weit das Auge reicht, irgendwo am Horizont verschmelzend. Damals haben meine Hände gezittert, so bewegt war ich von diesem Zeichen der Hoffnung auf Frieden am Vesaktag 2005.

Wie anders ist es doch 15 Jahre später. Zwar ist der Bürgerkrieg längst vorbei, Sri Lanka erlebte Jahre des Aufschwungs, statt Terroristen kamen Touristen, das Land mauserte sich vom Entwicklungsland zum Schwellenland. Doch dann kamen vor fast genau einem Jahr die Bombenanschläge am Ostersonntag auf Kirchen und Hotels. Langsam kamen die Gäste und mit ihnen die dringend benötigen Devisen zurück - und jetzt dieser unsichtbare Feind, der die ganze Welt durcheinander gebracht hat.

Die 14-jährige Kavisha wollte die Erste sein bei der weißen Buddhafigur unter dem mächtigen Boddhibaum. Ihre Laterne sollte ganz nahe bei der Figur hängen. Seit Monaten hat sie keinen Besuch bekommen, dabei war ihre Großmutter eine der wenigen Zuverlässigen immer am zweiten Samstag im Monat, wenn hier Besuchstag ist. Aber dann wurde die Oma krank, und als es ihr wieder besser ging, kam Corana. Niemand kann die Hauptstadt Colombo verlassen, seit dort die ersten Fälle aufgetreten sind. Also soll es Buddha richten und dafür sorgen, dass alles wieder so wird wie vorher. Und darum ist Kavisha, eigentlich ja eine Christin, als Erste zum Tempel im Kinderdorf gekommen. Und dann kam ein Gewitter, ein Regen, wie es sowas nur in den Tropen gibt, und bis das Mädchen hochgeklettert und die Laterne geholt hatte, war davon nicht mehr viel übrig. Die bunten Papiere, mit Mehlkleber auf Bambusstangen geklebt, hatten sich aufgelöst, - wie so vieles in diesen Tagen. "

DK