Beilngries
Im Viehwaggon ins Ungewisse

Erinnerungen an eine Zeit, als Menschen ihre Heimat verloren - und in Beilngries eine neue Heimat fanden

16.10.2021 | Stand 23.09.2023, 21:20 Uhr
An das Leid, das durch Krieg und Vertreibung erzeugt wurde, erinnert das Mahnmal am Beilngrieser Friedhof. −Foto: Adam

Beilngries - Heimatlos. Man sollte es nicht einfach nur flüchtig "über-"lesen und hinnehmen, weil man es ja schon öfter gehört und gelesen hat. Sondern einen Moment innehalten. Und es sich wirklich vorstellen, was damals, vor mittlerweile 75 Jahren, passiert ist: Der Zweite Weltkrieg war gerade zu Ende gegangen, 1945 in Deutschland. Die Deutschen hatten kapituliert, die Schrecken von Kampf und Leid und Tod waren vorbei.

Vermeintlich vorbei. Denn für mehrere Millionen Deutsche begann erneut tiefstes Leid: Sie wurden aus ihrer Heimat im Osten vertrieben, mussten von heute auf morgen alles verlassen. Verlassen - mit nichts. Ein paar Habseligkeiten durften sie mitnehmen, Dinge, die in einem Koffer, vielleicht einem Handwagen oder einer Truhe Platz fanden. Der "Rest", ob Wohnung, Haus, Bauernhof oder ganzes Anwesen, Tiere, Möbel, Erinnerungsstücke, Familienbesitz, sämtliches Hab und Gut, alles mussten sie zurücklassen. Nur, weil sie am "falschen Ort" lebten. Die Menschen aus der Tschechoslowakei, Ostpreußen oder aus Gebieten östlich der Oder-Neiße wurden in Viehwaggons gesteckt und auf eine Reise mit ungewissem Ausgang geschickt. Freunde und Nachbarn verloren sich aus den Augen, oft wurden sogar Familienangehörige getrennt. Heimatlos.

Das "traumatische Erlebnis" nie vergessen

"Ich kann mich an diese Fahrt im Viehwaggon noch immer erinnern, das war für mich als damals Zwölfjährige ein traumatisches Erlebnis", sagt Gretl Götzl. Die 87-Jährige, geboren in Königsberg an der Eger, lebt heute im Beilngrieser Seniorenheim. Mit drei Brüdern und den Eltern kam sie 1946 nach Beilngries, wie mit ihr unzählige weitere Heimatvertriebene, die nun auf der Suche nach einem neuen Zuhause waren. Die Einwohnerzahl im damaligen Landkreis Beilngries wuchs in wenigen Jahren, von 1939 bis 1948, von 14000 auf 21000 an. Der überwiegende Teil dieser Neuankömmlinge war aus der Heimat im Osten vertrieben worden. Dass solch ein Bevölkerungszuwachs, gerade in der Zeit nach dem Krieg, in der die Einheimischen selbst oft am Existenzminimum lebten, schwierig war, ist gut nachvollziehbar. Die neuen Bürger waren anfangs auf Hilfe angewiesen, brauchten vor allem Wohnmöglichkeiten, Essen, Kleidung und Arbeit. Aber sie brachten sich auch tatkräftig ein. "Mein Vater war Maurer, er fand schnell Arbeit, das war gut. Auch wir Kinder bekamen durch die Schule Freunde und Anschluss, wir wurden freundlich aufgenommen, auch wenn wir natürlich erst einmal nichts hatten", erzählt Gretl Götzl. Nach der Schule arbeitete sie einige Zeit in Erlangen, kam dann aber wieder nach Beilngries zurück, heiratete ihren Mann Josef und das Paar bekam acht Kinder. Beilngries wurde und blieb ihre Heimat. Die "alte Heimat" hat sie noch einmal besucht, mit den Kindern, denen sie ihren Ursprung zeigen wollte. "Ich konnte mich noch an vieles erinnern, ich habe ihnen gezeigt, wo wir Häuser hatten und wie wir gelebt haben. Zurückgehen war aber nie eine Option", sagt Götzl.

Das war es auch für Herbert Müller nicht. Er kam als Sechsjähriger in einem der Viehwaggons aus Fleißen/Plesná mit seiner Familie über Ulm nach Taufkirchen bei München, wo er schließlich aufwuchs. "Ging schon alles irgendwie", hält der 82-Jährige sich eher bedeckt bei der Frage, ob er sich an Erlebnisse aus seiner Kindheit erinnert. Er lernte nach der Schule den Beruf des Maurers und er lernte seine Frau Christine kennen, die aus Kottingwörth stammte. Schon in jungen Jahren kaufte sich das Paar ein Grundstück in Töging und baute ein Haus. Sechs Kinder kamen zur Welt. "Geld haben wir nicht viel gehabt, aber wir konnten viel selber machen", sagt Herbert Müller. Auch er hat seine alte Heimat nicht vergessen, ist mehrere Mal wieder dort gewesen, "um den Kindern zu zeigen, wo ich mal gelebt habe".

Eher gern von daheim ausgezogen ist dagegen Edith Plank, die in Breslau geboren ist. "Meine Eltern hatten einen Friseursalon und ich hab' immer gesagt: Ihr könnt alles von mir verlangen, aber nicht, dass ich den Laden übernehme", erinnert sie sich. Was sie tun wollte, war ihr immer klar: Menschen helfen. Und so kam die bekannte und beliebte Beilngrieserin mit den Flüchtlings- und Vertriebenen-Strömen in die Altmühlstadt, engagierte sich zeitlebens beim Roten Kreuz - und auch sie hat ihren Ruhesitz nun im Beilngrieser Seniorenheim gefunden.

Die Beilngrieser Entwicklung engagiert mitgestaltet

Maurer, BRK-Helferin oder auch Schulrektor: Es gibt in der Beilngrieser Geschichte viele engagierte Persönlichkeiten, die als Heimatvertriebene in die Altmühlstadt kamen und hier mit ihrem Wissen, ihrem Fleiß und Engagement nicht nur sich selbst eine Existenz aufbauten, sondern viel für das Wohl der Allgemeinheit tun konnten. Stellvertretend für viele steht in vorderster Reihe Ernst Hackl, geboren im Egerland, der als Heimatvertriebener in Beilngries Fuß gefasst hatte. Mittlerweile ist der Pädagoge und langjährige Schulleiter der Hauptschule verstorben. Zeitlebens hat er sich dafür eingesetzt, dass die Heimatvertriebenen und ihr Schicksal nicht in Vergessenheit gerieten. Er war im Vorstand der Sudetendeutschen Landmannschaft, die 1949 sogar der größte Verein in Beilngries war und erst 1998 aufgelöst wurde. Und er kümmerte sich um das Mahnmal am Beilngrieser Friedhof, das als Gedenkstätte "für die Toten des Deutschen Ostens" 1953 errichtet wurde und auch heute noch gepflegt wird. Damit die Menschen und ihr Schicksal nie vergessen werden - und auch als deutliches Zeichen dafür, dass die vielen "Heimatlosen", die einst als Fremde in Beilngries angekommen waren, zu einem bedeutenden Teil der Gesellschaft in ihrer neuen Heimat geworden sind.

MAHNMAL UND WERTSCHÄTZUNG

Sichtbares Zeugnis der damaligen Einwanderungsströme und für die gelungene Eingliederung findet sich heute noch in der Beilngrieser Sandsiedlung. Hier wurde eine ganze Reihe von Straßennamen so gewählt, dass sie an die Heimat der damaligen Vertriebenen erinnern. Platz der Heimat, Sudetenstraße, Böhmerwaldstraße, Schlesierstraße, Ostpreußenstraße oder Egerländerstraße sind hier zu finden. Zum einen sind die Straßennamen so sicherlich ein Mahnmal und Erinnerung auch für künftige Generationen, welche Folgen Kriege haben und welches Leid sie hervorrufen. Zum anderen sind die Straßennamen aber auch Zeugnis dessen, wie erfolgreich die Integration der Heimatvertriebenen in Beilngries letzten Endes war. Denn fernab der Heimat sind sie hier neu heimisch geworden.

DK


Regine Adam