Ingolstadt
Wutbürger gegen Politprofi

Starkes Spiel: Simon Dworaczek bringt "Furor" Lutz von Hübner und Sarah Nemitz auf die Ingolstädter Studiobühne

01.12.2019 | Stand 23.09.2023, 9:43 Uhr
Eine Annäherung gibt es nicht: Victoria Voss, Jan Beller und Jan Gebauer im Studio. −Foto: Olah

Ingolstadt (DK) Er kommt mit Blumen und Pralinen und einem vorsichtig angeknipsten jovialen Lächeln.

Und man spürt sofort: Das passt nicht. Heiko Braubach, Ministerialdirigent und OB-Kandidat, hat Nele Siebolds Sohn überfahren. Man musste ihm ein Bein amputieren. Braubach sagt: "Es war nicht meine Schuld. " Die Zeitung schreibt, dass der 18-Jährige mit Drogen vollgepumpt vor das Auto des Politikers rannte. Dass dieser keine Chance hatte und sogar Erste Hilfe leistete. Jetzt will er Unterstützung anbieten. Die Mutter ist verzweifelt. Ihr Neffe Jerome schaltet sich ein, fordert 100000 Euro Schmerzensgeld und eine monatliche Rente für das Unfallopfer Enno. Nach Informationen im Netz sei Braubach zu schnell und vor allem alkoholisiert gefahren. Nur durch seine Beziehungen zu Polizei und Presse habe es eine entsprechende Berichterstattung gegeben. Bald wird klar, dass es Jerome nicht um Gerechtigkeit oder Wiedergutmachung geht. Die Situation eskaliert.

"Furor" haben Sarah Nemitz und Lütz Hübner ihr Stück genannt, das den Zusammenprall verschiedener gesellschaftlicher Realitäten zum Thema hat. Es geht um oben und unten, Täter und Opfer, Recht, Rechte und Gerechtigkeit, Fake News und Wahrheit, Politprofis und Wutbürger. Und es geht um die Unfähigkeit zur Kommunikation. Simon Dworaczek hat "Furor" im Ingolstädter Studio eindrucksvoll in Szene gesetzt. Die Premiere am Freitagabend wurde lange beklatscht. Und das liegt in erster Linie an dem hervorragenden Schauspieltrio, das die Figuren zum Schillern bringt. Denn in "Furor" gibt es nicht nur schwarz oder weiß, gut oder böse, richtig oder falsch, es gibt vor allem Zwischentöne. Und das zeigen die Schauspieler wirkmächtig.

Victoria Voss ist Nele. Sie arbeitet im Pflegedienst. Was das bedeutet, weiß man: Überstunden, extreme physische und psychische Belastung, schlechte Bezahlung. Dazu kommt das Problem mit Enno und seiner Drogensucht. Und jetzt: der Unfall. Die ungewisse Zukunft für Enno. Der mediale Pranger. Möglicherweise finanzielle Forderungen des Unfallgegners. Und diese Wut - auf den Mann, der am Steuer saß, auf Ennos Sucht, die ihn in diese Lage gebracht hat, auf ihre prekäre Situation. Victoria Voss spielt Nele so, dass sie dem Zuschauer nah ist: verzweifelt, zornig, dünnhäutig, kämpferisch, überfordert, ohnmächtig. Hier leidet sie auch noch unter unerträglichem Juckreiz durch eine (vermutlich stressbedingte) Neurodermitis - was schon beim Zuschauen schmerzt.

Jan Gebauer ist Heiko Braubach, ein Politiker durch und durch. Einer, der immer im Wahlkampfmodus ist, abwägt, was ihm nützt oder schadet, wann er der Kumpel ist, der sich hochgearbeitet hat, und wann ein Vertreter der Elite, auf Du und Du mit der Gattin des Chefredakteurs und dem Polizeipräsident. Warum ist er heute hier? Weil er ein gutes Herz hat oder weil er seine OB-Kandidatur in Gefahr sieht? War er wirklich alkoholisiert? Hat er kompromittierende Fakten verschwinden lassen? Was hat der Unfall mit ihm gemacht? Jan Gebauers Braubach ist ein Machtmensch. Und das zeigt er in den leisen Momenten so brillant wie in den lauten. Aber er bewahrt ihm sein Geheimnis.

Jan Beller ist Jerome, Ennos Cousin, ein Underdog, der alles abgebrochen hat und jetzt als Paketbote bei einem Subunternehmen nicht mal den Mindestlohn bekommt. Er sieht freundlich aus, doch hinter der Fassade brodelt es. Und er wähnt sich nicht allein mit seinem Hass: Das Internet ist voll von Verschwörungstheorien, Rechtsradikalismus, Gewaltfantasien, Häme. Er könnte ein Zeichen setzten. JETZT.

"Furor" beschreibt eine psychologische Ausnahmesituation: Hier prallen sie aufeinander, die Welten dieser drei Personen, deren Charaktere und Positionen nicht unterschiedlicher sein könnten, die aber eines verbindet: Angst. Angst um ihre Existenz. Sie reden. Aber eine Verständigung ist nicht möglich.

Regisseur Simon Dworaczek hat das alles mit großer Präzision in Szene gesetzt. Vor allem die kippeligen Momente, die Stimmungswechsel, die kurzzeitig Nähe vorgaukeln, um dann in Brutalität umzuschlagen, die atmosphärischen Spannungen, die bisweilen ins Surreale driften, meistert sein Ensemble grandios.

Von Jörg Reissner stammt der Sound aus Störsignalen und beschwingt-dräuenden musikalischen Intermezzi. Und die zeichenhafte Bühne von Maike Häber verrät viel über emotionale Befindlichkeiten: Auslegeware, Klappstuhl, Kühlschrank demonstrieren Einsamkeit und Bedürftigkeit statt Behaglichkeit. Doch der Radioschrank birgt Überraschendes.

Hate Speech, Diffamierungen von Politikern, Radikalisierung, reale Anschläge: Natürlich denkt man als Zuschauer die Wirklichkeit stets mit. Das Stück bietet dafür keine Lösungen. Es entlässt das Publikum mit einer diffusen Beunruhigung über unsere Gesellschaft und mit vielen Fragen. Was kann Theater Besseres tun?

ZUM STÜCK
Theater:
Studiobühne, Ingolstadt
Regie:
Simon Dworaczek
Komposition:
Jörg Reissner
Ausstattung:
Maike Häber
Termine:
Alle Vorstellungen bis 21. Januar 2020 sind bereits ausverkauft
 

Anja Witzke