"Wir betonen den Datenschutz zu sehr"

20.05.2011 | Stand 03.12.2020, 2:48 Uhr |

 

Neuburg/Karlsruhe (DK) Am Montag feiert das deutsche Grundgesetz Geburtstag. Ist es noch zeitgemäß oder nachbesserungsbedürftig? Unser Redaktionsmitglied Sebastian Schanz sprach mit Günter Hirsch – kein anderer Neuburger ist die Justizleiter höher geklettert, als der ehemalige Europarichter und Präsident des Bundesgerichtshofes.

Herr Prof. Hirsch, ist das Grundgesetz noch zeitgemäß?

Prof. Günter Hirsch: Das Grundgesetz ist das Beste, was uns nach dem Krieg passieren konnte. Es hat uns eine nie da gewesene Stabilität beschert. Und es ist so vorausschauend, dass es bis heute mit nur kleineren Änderungen in Kraft ist. Unser Grundrechtekatalog hat Modellcharakter, weit über Deutschland hinaus. Wenn es am Europäischen Gerichtshof um Grundrechte ging, fiel der Blick immer auf unser deutsches Grundgesetz. Zusammen mit dem Bundesverfassungsgericht ist das ein Highlight unserer Geschichte.

Das klingt wie eine Liebeserklärung . . .

Hirsch: (lacht) Ja, das ist es auch ein Stück weit.

Es gibt also keinen Änderungsbedarf?

Hirsch: Keinen gesteigerten. Natürlich gibt es immer gesellschaftliche Prozesse, die die Frage nach Änderungen eröffnen.

Wo konkret?

Hirsch: Die Bundesländer haben gegen den Länderfinanzausgleich geklagt. Das sind Verfassungsklagen gegen Regelungen des Grundgesetzes. Ein anderes Stichwort ist die grundsätzliche Frage, ob wir mehr plebiszitäre Elemente, mehr direkte Demokratie brauchen.

Wie stehen Sie dazu?

Hirsch: Meiner Meinung nach sollte es auf kommunaler und Länderebene mehr direkte Mitbestimmung geben. Auf Bundesebene bin ich skeptisch.

Es gibt auch Konflikte innerhalb des Grundgesetzes, etwa beim Datenschutz. Wie kann man diese lösen?

Hirsch: Der Datenschutz ist ein klassischer Fall. Hier kollidiert unter Umständen das Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung mit der Schutzaufgabe des Staates gegenüber seiner Bürger.

Ist der Staat dabei zu weit gegangen?

Hirsch: Ich mache aus meiner persönlichen Auffassung keinen Hehl, dass wir mitunter den Datenschutz zu sehr betonen, wenn er in Konflikt steht mit Fragen der Sicherheit.

Die Menschen haben Angst vor einem Big-Brother-Staat. Sie nicht?

Hirsch: Nein, überhaupt nicht. Ich finde eher, dass wir in bestimmten öffentlichen Bereichen mehr Kameras brauchen.

Das müssen Sie begründen . . .

Hirsch: Die Kameras auf den U-Bahnhöfen zum Beispiel. Die haben zur Aufklärung von übelsten Attacken geführt, möglicherweise auch zur Abschreckung. All das ist heute etabliert, war aber lange umstritten. Ich erachte das Grundrecht auf Sicherheit nicht für weniger wichtig als den Datenschutz.

Das Grundrecht auf Sicherheit wird auch bei der Arbeit der Neuburger Alarmrotte berührt. Es gibt kein Gesetz für den Fall, dass Abfangjäger einen Terroristen im Flugzeug abschießen würden . . .

Hirsch: Das ist ein ganz schwieriges Problem. 2006 hat das Bundesverfassungsgericht eine entsprechende Regelung für nichtig erklärt. Hier greifen die ersten zwei Artikel unseres Grundgesetzes: das Recht auf Leben und die Menschenwürde. Kein Gesetzgeber kann an diesen Artikeln rütteln. Die Menschen, die im Flugzeug sitzen, dürfen nicht als Objekte, als Kollateralschaden behandelt werden. Wir haben dazu derzeit kein Gesetz. Aber vielleicht ist es es auch besser, diesen Zustand so zu belassen.

Wie meinen Sie das?

Hirsch: Wenn es wirklich zu der Situation kommen würde, in der etwa ein Flugzeug mit terroristischer Absicht auf ein voll besetztes Fußballstadion gelenkt wird, ist es nicht schlecht, dafür keine normative Regelung zu haben.

Sie befürworten die ungelöste Rechtslage?

Hirsch: Strafrechtlich handelt es sich beim Abschuss des Flugzeuges um eine gezielte Tötung – auch der Passagiere. Eine entsprechende Anklage müsste der Pilot oder der befehligende Offizier gewärtigen. Strafrechtlich gibt es aber auch Rechtfertigungsgründe, Güterabwägungen und Schuldausschließungsgründe. Was ein Strafrichter mit einem Piloten machen würde, der in einer solchen Situation geschossen hat, müsste man sehen. Ob diese Rechtsunsicherheit den Beteiligten, also den Piloten, zumutbar ist, ist eine andere Frage.

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