Netzgeschichte
Was es mit dem Internet-Phänomen "Cancel Culture" auf sich hat

Kampfbegriff oder neue Debattenform? Das sagt die Wissenschaft

15.01.2021 | Stand 23.09.2023, 16:25 Uhr
  −Foto: pexels

Es ist ein Phänomen der modernen Zeit: "Cancel Culture". Der schwer einzugrenzende Begriff geistert durch das Netz und wird seit jeher kontrovers diskutiert. Für die einen ist er ein Kampfbegriff, für andere eine neue Form der Debatte. Was er für die Gesellschaft bedeutet.

 

Jüngstes Beispiel: Bruce Willis. Seit Jahrzehnten gefeierter Hollywood-Star, nicht zuletzt bekannt durch die "Stirb Langsam"-Trilogie. Er steht in der Öffentlichkeit, wird durch Paparazzi und seine Fans beobachtet: Jeder Schritt, jeder Fehltritt immer im Blick. Der Schauspieler war dabei fotografiert worden, wie er in Los Angeles ohne Mund-Nasen-Schutz in eine Apotheke ging und diese ebenfalls ohne Maske wieder verließ. Laut Medienberichten soll der Apotheker ihn aufgefordert haben, das Geschäft zu verlassen. In der aktuellen Lage, mit steigenden Corona-Infektionen, war dieses nachlässige Handeln selbst für Fans des Stars vor allem eins: Inakzeptabel. Es folgte eine öffentliche Schelte der Netz-User. Ihren Unmut gaben sie unter anderem auf Twitter kund.

 

 

Darunter stach immer wieder ein Satz hervor: "Cancel Bruce Willis", zu Deutsch in etwa mit "Löscht Bruce Willis" zu übersetzen. Die Hollywood-Ikone ist allerdings nicht der einzige Star, der sich in der Corona-Pandemie einen Fauxpas erlaubte. Sängerin Lana Del Rey ("Summertime Sadness") trug bei einer Autogrammstunde lediglich eine glitzernde grobmaschige Maske, während alle Anwesenden und ihr Team die AHA-Regeln befolgten. Das Netz reagierte prompt: Von Starallüren und Fahrlässigkeit war dort zu lesen. Auch hier wurden Rufe laut, die Sängerin "zu canceln". Später verteidigte sich die Sängerin auf Twitter, die Maske hätte eine Plastikschicht auf der Innenseite. Doch so wirklich ließen sich die User davon nicht überzeugen.

 

 

 

Doch was steckt hinter Cancel Culture überhaupt?

 

Das Phänomen stammt ursprünglich aus dem englischsprachigen Raum, genauer gesagt aus den USA. Auf Twitter schrieb man wohl scherzhaft vom "canceln", wenn die Meinung einer anderen Person nicht der eigenen entsprach. "To cancel", zu deutsch: Absagen, Löschen. Unter der sogenannten Cancel Culture versteht man also eine Absage- oder Löschkultur. Aus dem anfänglichen Spaß wurde Ernst: Nun rufen Menschen in sozialen Netzwerken damit zu einem Boykott auf, mal handelt es sich um eine Person, mal um eine Organisation. Zugrunde liegt immer der Vorwurf beleidigender oder diskriminierender Aussagen oder Handlungen.

 

 

Ein umstrittener und gefährlicher Trend, dessen Einordnung sich darüber hinaus als schwierig gestaltet. Friederike Herrmann, Professorin für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt weiß: Wird ein Mensch "gecancelt", wird er von seinen Kritikern mundtot gemacht. "In Deutschland wird der Begriff missbraucht, er ist zu einem politischen Kampfbegriff geworden". Demnach werde der Begriff "Cancel Culture" auch gerne missbraucht, um linke Positionen zu diffamieren.

 

 

Dieter Nuhr, Fridays for Future und die Klimakrise

 

In der Vergangenheit stach auch der Fall von Dieter Nuhr hervor: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) veröffentlichte einen Beitrag des Kabarettisten auf ihrer Homepage. Nuhr war allerdings im Vorfeld immer wieder mit Aussagen über die Klimakrise in Kritik geraten. Nutzer in den sozialen Medien fragten sich, wie jemand wie Dieter Nuhr Kampagnengesicht der Forschungsgemeinschaft werden kann. Die DFG reagierte auf die Kritik und nahm den Beitrag des Kabarettisten von ihrer Webseite. Nuhr fühlte sich denunziert, und brachte "Cancel Culture" ins Spiel. "Menschen positionieren sich als Opfer, wobei sie wirklich jede Möglichkeit haben, sich dazu zu äußern", erklärt Herrmann. 

 

 

 

"Black Lives Matter" (BLM) und die "Cancel Culture"

 

Ein echter Fall der "Cancel Culture" hingegen ist der von David Shor aus den USA: Nach dem Tod von George Floyd fasste er auf Twitter die Studie eines dunkelhäutigen Princeton-Professors zusammen: 1968 hätten gewaltsame Proteste dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten Richard Nixon zum Wahlsieg verholfen. Hingegen hätten friedliche Demonstrationen zu einem Stimmenzuwachs für Demokraten geführt. Aktivisten werteten Shors Tweet als Rat , die Black-Lives-Matter-Bewegung solle auf Gewalt verzichten. Ein Weißer, so die Aktivisten, habe kein Recht, das zu beurteilen. Sein Arbeitgeber soll ihn gefeuert haben. Dieser Fall, so Herrmann, zeige die bereits genannte Existenzbedrohung.

 

Die Professorin warnt: Bei dem Begriff "Cancel Culture" müsse man vorsichtig sein, er werde oft für politische Zwecke missbraucht, ähnlich wie der Begriff political correctness. Er richte sich dann gegen diejenigen, die Rassismus oder andere Diskriminierungen kritisierten. Wichtig sei es, dass man ganz andere Formen der Aggression im Netz im Blick behalte, etwa von rechtsextremer Seite. Da gäbe es allerdings keinen so griffigen Begriff wie "Cancel Culture". Sie gipfele gar in Morddrohungen, wie sie etwa Virologe Christian Drosten erleben muss. 

So umstritten die "Cancel Culture" auch ist, in den sozialen Medien ist sie unumgänglich. Allerdings sollte man zweimal hinsehen, von wem die Forderung des "Löschens" stammt. Die "Cancel Culture" hat gewiss Einfluss auf die bisherige Diskussionsform. Herrmann ist sich sicher: Die Gesellschaft lebt von einer Meinungsfreiheit - innerhalb eines rechtlichen und ethischen Rahmens. "Statt die Streitkultur zu pflegen, werden Menschen sofort ausgegrenzt." Damit könne man eine Debatte verhindern. Eine Debatte, die vielleicht oft notwendig wäre.

 

Anna Hausmann