Berlin
"Votum gegen das Grundgesetz"

Ex-Innenminister Gerhart Baum zum Zuschauerurteil im TV-Experiment "Terror"

18.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:10 Uhr

Harte Kritik: Gerhart Baum (FDP) war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister. An der ARD-Produktion "Terror", an dessen Ende die Zuschauer per Abstimmung ein Urteil fällen durften, lässt er kein gutes Haar. So etwas dürfe nicht öfter vorkommen. - Foto: Imago

Berlin (DK) Mehr als sieben Millionen Zuschauer haben am Montagabend die TV-Inszenierung von Ferdinand von Schirachs Theaterstück "Terror" verfolgt. Ein Terrorist hat eine Passagiermaschine entführt, zwingt den Flugkapitän, Kurs auf ein voll besetztes Fußballstadion zu nehmen.

Ein Jetpilot der Luftwaffe schießt die Maschine gegen den Befehl seines Vorgesetzten ab, um die Menschen im Stadion zu retten und muss sich wegen Mordes an den 164 Passagieren vor Gericht verantworten. Das Urteil durften die Fernsehzuschauer fällen: 86,9 Prozent stimmten im Anschluss für Freispruch.

 

Herr Baum, Sie debattierten im Anschluss an die Ausstrahlung bei "Hart aber fair" mit über diese ungewöhnliche Produktion. Sie werfen dem Autor vor, in die Irre zu führen. Was stört sie?

Gerhart Baum: Grundsätzlich ist eine Debatte über die zugrundeliegende Verfassungsproblematik wichtig und nützlich. Dagegen ist nichts einzuwenden - aber gegen die Publikumsbefragung. Über die Entscheidung der Fernsehzuschauer bin ich erschrocken. Das ist ein Votum gegen das Grundgesetz. Und es ist doch merkwürdig: Bei den bisherigen Theaterinszenierungen ist das Ergebnis viel knapper ausgefallen, lag in der Regel bei 55 zu 45. Was ist da passiert? Die ARD hat vorher mit dem Bild des Piloten Werbung gemacht: "Ich habe 164 Menschen getötet, um 70 000 zu retten." Das ist eine Beeinflussung. Das Schlussplädoyer des Verteidigers des angeklagten Bundeswehrpiloten hat bei vielen Zuschauern möglicherweise den Ausschlag gegeben und ihre Entscheidung für einen Freispruch beeinflusst. Es steckt etwas Manipulatives in dem Stück.

 

Sie meinen also, die Zuschauer haben nur aus dem Bauch heraus entschieden?

Baum: Hier spielten Emotionen eine große Rolle, und die sehr wichtige ethische und juristische Diskussion ist viel zu kurz gekommen. Ich fürchte mich davor, dass solche Volksbefragungen mit dem Handy auf dem Sofa via TV öfter stattfinden. Stellen Sie sich vor: Ein Terrorist wird gefasst und hat Informationen über einen bevorstehenden Anschlag. Dann kommt der Vorschlag, ihn zu foltern, um eine Aussage zu erzwingen. Eine große Mehrheit würde sich im Falle einer Abstimmung für die Folter entscheiden. Das wäre ein Unding. Während der Zeit des RAF-Terrors waren 67 Prozent für die Todesstrafe für die Täter. Wir dürfen die Grundrechte und die Verfassung nicht zur Disposition stellen.

 

Sie haben erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Luftsicherheitsgesetz geklagt, das den Abschuss von Flugzeugen durch die Bundeswehr im Terrorfall ermöglichen sollte. Glauben Sie, dass Karlsruhe immer noch so entscheiden würde?

Baum: Absolut! Die Verfassung schützt uns gegen das Volksempfinden, also das neue Schwarmverhalten. Wir dürfen nicht Menschenleben gegen Menschenleben aufrechnen. Hinzu kommt hier, dass keinerlei Gewissheit besteht, die Menschen im Stadion zu retten. Das wäre ein Grundrechtsverstoß. So sieht es auch das Bundesverfassungsgericht.

 

Die Bewertungen über die Sendung fallen sehr unterschiedlich aus. Ist es nicht grundsätzlich zu begrüßen, wenn Millionen so für Politik und die Verfassung interessiert werden?

Baum: Ferdinand von Schirach ist die ganze Sache entglitten. Er selbst hält seinen Protagonisten, den Piloten, für schuldig. Er hat offenbar nicht damit gerechnet, was mit der TV-Inszenierung und der Abstimmung passiert ist. Er popularisiert hier grundsätzliche Fragen von Recht und Gesetz.

 

Das Interview führte

Andreas Herholz.