Ingolstadt
Unter vollen Segeln in die Moderne

OB Lösel beschwört die digitale Zukunft in leuchtenden Farben - im Stadtrat wird aber auch Kritik laut

08.02.2018 | Stand 02.12.2020, 16:50 Uhr

Digitalisieren, was die Glasfaserkabel hergeben: Schaltschränke der COM-IN für den Breitbandausbau bei Hagau. - Foto: Hammer

Ingolstadt (DK) OB Christian Lösel will auf keinen Fall, dass Ingolstadt den Anschluss an die Zukunft verpasst. Deshalb forciert er den Strategieplan "Digitales Ingolstadt - Zukunftsfähiges Ingolstadt". Der Grundsatzbeschluss darüber hat gestern im Stadtrat zu einer Grundsatzdiskussion geführt.

Victor Hugo (1802 - 1885), Autor des Klassikers "Der Glöckner von Notre-Dame", ist bisher noch nicht nennenswert als Grandseigneur des digitalen Zeitalters bemüht worden. Bis Christian Lösel zu Werke schritt. Ingolstadts Oberbürgermeister transformierte den Franzosen in die Moderne, als er gestern ein Zitat Hugos an den Anfang seiner empathisch vorgetragenen "persönlichen Erklärung zu Tagesordnungspunkt 2" setzte. Es geht so: "Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare. Für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte. Für die Tapferen aber ist sie die Chance."

Lösel (CSU) fuhr in Hugos schicksalsorientiertem Duktus fort, er hielt - um im Bilde zu bleiben - eine Big-Data-Laudatio mit mächtigem Pathos-Streaming: "Die Digitalisierung ist Risiko und Chance zugleich. Sie wird Millionen von Jobs kosten! Sie übertrifft in Wucht und Einflussnahme die sozialen, ethischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert um ein Vielfaches. Sie ist nicht nur disruptiv, sondern auch durchdringend, umklammernd, schleichend - und sie ist unsichtbar." Aber trotz allem ein Glück. "Die Digitalisierung bedeutet langersehnte Hoffnung für viele Probleme!" Medizin. Sicherheit. Ökologie. Lösel: "Sie verspricht uns ungeahnte Mobilität, grenzenlose Kommunikation und Kreativität! Sie wird uns Schweres abnehmen, unser Leben erleichtern und verbessern." Ingolstadt dürfe deshalb auf keinen Fall den Anschluss an diese rasante Entwicklung verpassen.

Sein Digitalisierungskonzept zielt darauf, in nahezu allen Bereichen den Druck zu erhöhen: Es werden Bildungsstrategien für jede Altersgruppe entworfen; mit Tablet-PCs ausgerüstete Kindergartenkinder inklusive. Ingolstadt soll Pilotstadt für autonomes Fahren werden, einen Förderverein für digitale Kunst gründen, sich als Pionier für E-Governance (Stichwort Digitales Rathaus) hervortun, seine Museen in die digitale Moderne führen oder auch gemeinsam mit der Technischen Hochschule Künstliche Intelligenz mehren. Und. Und. Und. Digitalisieren, was die Glasfaserkabel hergeben.

Um seinem Appell Nachdruck zu verleihen, malte Lösel kraftvolle Metaphern. Darunter aus der Wortfamilie der Standortbewirtschaftung ("Füllen wir unsere Laderäume mit den Fähigkeiten unserer Arbeitnehmer und Unternehmer!"), aus dem Bereich des Festungswesens ("Rekrutieren wir unsere Besatzung mit den Digitalisierungsverantwortlichen!") und - wenn auch leicht vormodern - aus der Welt der Seefahrt: "Setzen wir die Segel und lassen uns von der unbandigen Kraft unseres Standorts hinaustragen in unsere Zukunft!" Unter vollen Segeln geht es also ab in die digitale Moderne. So weit der OB.

Andere Redner wählten bei ihrer Beschreibung des tiefgreifenden Wandels Bilder aus den Sphären Revolution, Krieg und Schienenfernverkehr: "Es bleibt uns ja auch gar nichts anderes übrig, als den Zug zu besteigen, der mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung Zukunft rast", sagte Achim Werner (SPD). Er habe aber den Eindruck, "dass da eine Kavallerie gestartet worden ist, die nach vorne prescht und nicht nach links oder nach rechts schaut. Das ist auch nicht richtig!" (diesen Vergleich hätte Hugo gewiss verstanden). "Ist alles, was technisch machbar ist, auch gesellschaftlich sinnvoll" Werner findet: nein.

Jürgen Siebicke (BGI) warf ein, "dass Victor Hugo auch den Roman ,Die Elenden' geschrieben hat". Les Misérables. "Diese Elenden sind heute die von der Digitalisierung Abgehängten!" Diese Gefahr drohe nicht zuletzt in der Stadtpolitik ("Wo ist denn der Onlinezugang zu den Sitzungsprotokollen"), ja sogar in der Schule. "Ich habe den Eindruck, dass die Schüler mehr über die Digitalisierung wissen als ihre Lehrer", so Siebiá †cke. "Aber eine smarte Stadt nimmt alle Bürger mit!"

Überhaupt diese Smart City, die schlaue Stadt; eines von Lösels Lieblingswörtern nach seinem Amtsantritt 2014, woran Petra Kleine (Grüne) erinnerte. Wieso seien die Vorschläge für digitale Lösungen bei der Verkehrsplanung "nicht ordentlich geprüft worden" Warum dürfe der Livestream aus dem Stadtrat nicht gespeichert werden, "damit die Bürger alles nachhören und mal vorspulen können, wenn's langweilig wird" Oder das Stichwort Open Data: traurig. Kleine zu Lösel: "Wenn es konkret wurde mit der Smart City, haben Sie nicht geliefert!"

Raimund Köstler (ÖDP), ein Informatiker, gab zu bedenken, dass die Risiken der Digitalisierung in dem Grundsatzbeschluss nicht bewertet würden. "Aber das muss darin vorkommen!" Da gab ihm Lösel recht. Er werde deshalb mit der Uni Eichstätt Kontakt aufnehmen.

Am Ende obsiegte der Optimismus auf der ganzen Linie. Der Stadtrat fasste den Grundsatzbeschluss "Digitales Ingolstadt" einstimmig.