Ingolstadt (DK) Vielleicht ist es ein Kennzeichen wirklich großer Komponisten, dass sie unverwüstlich sind. Johann Sebastian Bach zum Beispiel. Seit seinem Tod 1750 hat fast jede Generation ein eigenes Verständnis entwickelt, in welcher Art der Thomaskantor aufzuführen sei. Dabei färbte stets der jeweilige Zeitgeschmack ab, klebte an dem ursprünglichen Notentext und verwandelte ihn manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Bearbeitungen der Werke Bachs dokumentieren, wie völlig unterschiedlich dessen Musik gedeutet wurde.
Aber: Egal durch welche Brille das Barockgenie betrachtet wurde - die unvergleichliche Qualität der Musik blieb immer erhalten. Ja, die verschiedenen künstlerischen Perspektiven sind sogar eine Bereicherung.
Der Cellist László Fenyö und die Pianistin Julia Okruashvili begannen ihren Duo-Abend im Ingolstädter Festsaal nun mit einer solchen kühnen Bach-Bearbeitung. Drei Choralvorspiele hat der ungarische Komponist Zoltan Kodály für die Besetzung Cello und Klavier transkribiert - und dabei den Notentext extrem verfremdet.
Im Publikum schauten sich manche Gäste ratlos an. Was war da zu hören? Bach oder Kodály? Oder Kodály, wie er Bach begreift? Oder Fenyö und Okruashvili wie sie Kodálys Bach verstehen? Oder doch Bach so, wie man ihn eigentlich deuten sollte? Kompliziert. Zweifellos klingt diese Musik zutiefst romantisch. Sie nutzt die Möglichkeiten des Cellos und des modernen Konzertflügels. Stellt Kontraste her, die man sonst nie hört. Im Chorvorspiel "Ach, was ist doch unser Leben" tobte sich Julia Okruashvili am Flügel aus, donnert die Akkorde, als wollte sie das gewaltige Grollen der Orgel imitieren, während László Fenyö einen sehr zarten, elegischen Klagegesang anhob. Das war packend gespielt, erinnerte ein wenig an die Bach-Transkriptionen von Ferruccio Busoni und Sergei Rachmaninow. Und Bach wirkte hier, als hätte er nicht Kirchenmusik komponiert, sondern ein romantisches Charakterstück.
Bereits in diesen einleitenden Stücken war spürbar, dass zwei hervorragende Musiker zusammenspielten. Fenyö ist alles andere als ein gradliniger Interpret. Er spielt vielmehr ausgesprochen raffiniert, vielgestaltig, hochreflektiert und produziert dabei eine ungeheure Spannweite an Nuancen. Er traut sich dabei auch, immer wieder die gefälligen Gefilde des hochpolierten, strahlenden Schönklangs zu verlassen und zerbrechliche, intime Töne anzustimmen. Deutlich wurde das etwa bei dem wirklich magischen Augenblick, wenn in den letzten Takten von Kodálys Sonate op. 4 das weitschwingende, rezitativische Anfangsmotiv auf einmal wie eine ferne Reminiszenz wieder auftaucht und von Fenyö geradezu überirdisch schön intoniert wurde. Überhaupt was dieses Stück einer der Höhepunkte des Konzerts, weil hier die beiden Künstler extremste Ausdrucksregionen, zwischen glasiger, an Debussy erinnernde Harmonien, bis hin zu volkstümlichen, feurigen Ausbrüchen in enormer Expressivität darstellen konnten.
Aber man kann bei diesem durchweg verblüffend hohem interpretatorischen Niveau der beiden Künstler kaum ein Werk besonders hervorheben. Auch die "Fantasiestücke op. 73" von Robert Schumann gelangen geradezu vorbildlich, weil Fenyö und Okruashvili sie so überhaupt nicht robust spielten, sondern die Zerbrechlichkeit dieser Musik, die unendlichen Valenzen der Leidenschaft und des Feuers zeigen konnten. Hier wurden im tiefsten Sinne die Emotionen implizit dargestellt, indem immer wieder die Höhepunkte gerade nicht laut ausgespielt, sondern nur angedeutet wurden - und so noch stärker wirkten.
Kaum weniger spannend die späte, sehr gesangliche Beethoven-Sonate op. 102 Nr. 1, die die beiden Künstler mit herber Schönheit entwickelten, um dann die schnellen Sätze mit geradezu schneidendem Fortissimo hinzufetzen. Großartig!
Und schließlich zum Ausklang die große Grieg-Sonate, die Fenyö und Okruashvili im besten Sinne gefühlsbetont deuteten - diesmal ohne allzu viel Hintergedanken. Begeisterter Beifall für ein hervorragend aufeinander eingespieltes Duo.
Jesko Schulze-Reimpell
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