Transzendenz und Bürokratie

Experimentelle Kapsel-Ausstellungen im Münchner Haus der Kunst

11.05.2020 | Stand 23.09.2023, 11:59 Uhr
Joachim Goetz
Steriler Raum: Sung Tieus "Zugzwang". −Foto: Geuter

München - Ein schlechter, ein falscher Zug und alles ist verloren.

Das gilt beim Schach, jedenfalls wenn man einen engagierten cleveren Gegner hat. Oder auch im Migrantenleben, wenn man das derzeit in der Südgalerie im Münchner Haus der Kunst gezeigte neueste Werk der vietnamesisch-deutschen Künstlerin Sung Tieu (geboren 1987 in Hai Duong, Vietnam) wörtlich nimmt. Sie vergleicht in der experimentellen Kapsel-11-Ausstellung das amtliche Dasein von Asylsuchenden mit einem Schachspiel, Gegner: Behörden und Formulare. Und untersucht in ihrer bislang umfassendsten Arbeit, einer multimedialen Rauminstallation mit dem Titel "Zugzwang", die psychologischen Auswirkungen von Verwaltungsapparaten in Bezug zu den dort sichtbaren Design-Ästhetiken. Falls man da überhaupt mit den sehr positiv besetzten Begriffen "Design" und "Ästhetik" operieren kann.

Denn die Installation, die Inneneinrichtungen von Einwanderungsbehörden, Einwohnermeldestellen und modernen Strafvollzugsanstalten zum Ausgangspunkt nimmt, ist an abweisender Kälte nur schwer zu übertreffen. Die Sitzgruppen aus Edelstahl stammen von einem britischen Gefängnisausstatter, die schwarzen Regale hat die Künstlerin selbst entworfen. Selbst die darin präsentierten Objets trouvés und jedem individuellen Kontext beraubten Erinnerungsstücke - darunter rosarotes Sparschwein, Stiefeletten, weiße Geldkasse, geflochtener Korb-Puppenwagen - wirken verloren und steigern das aseptische Klima.

An der Wand hängen mit Schachbrettmustern und Figurensymbolen überdruckte und gerahmte Asylanträge, Wohnsitz-Anmeldungen, Einbürgerungsformulare. Alle wurden so überarbeitet, dass sie sich keinem bestimmten Staat zuordnen lassen. Als Geräuschkulisse kommt eine auf Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre basierende, mit allerlei Tastatur- und Telefongeräuschen, Mausklicks und Rauschen durchsetzte musikalische Untermalung dazu. Die Bürokratie wird als Schicksalsraster erkennbar gemacht. Individuen wird sie nicht gerecht. Sondern drängt diejenigen, die sich den strengen Regeln in diesen sterilen Räumen nicht unterordnen, in die Grauzonen der Legalität. Ein falscher Zug - und Du bist raus.

Diese existenzielle Schwere kontert die 1983 in Dakar geborene Monira Al Qadiri, die in Kuwait aufwuchs und heute als eine der bedeutendsten Künstlerinnen der Golfregion gilt, in Kapsel 12 mit ihrer Arbeit "Holy Quarter". Nicht gerade leichte Kost - aber etwas komplett Anderes. Sie versetzt den Betrachter in ein, wie die Kuratorin meint, raumzeitliches Delirium. Es lässt einen kaum mehr los.

Hinter großen mystischen Glaskugel-Skulpturen sieht man auf einer riesigen Leinwand einen bildgewaltigen, mit Text und Musik untermalten Film, dessen Sequenzen in der Wüstenregion "Empty Quarter" in Saudi-Arabien, Jemen und Oman entstanden. Dort entdeckte um 1930 der englische Forscher und Arabist St. John Philby einen Vulkan, obwohl er ein Atlantis des Sandes suchte. Selbst der Vulkan entpuppte sich schließlich als etwas ganz anderes - nämlich als Einschlagkrater eines riesigen Meteoriten, genannt "Al Wabar". Beim großen Knall entstanden durch die Verschmelzung von Sand mit kosmischer Energie einst wunderschöne schwarze leuchtende Steine, die Al Qadiri zu ihren Glasskulpturen inspirierte. Im Film übernehmen sie die Rolle des Erzählers, der mit computersimulierter Stimme als fiktionales Wesen "Wabar" spricht, das vom All auf die Erde gefallen ist.

Die Mythen umwobene Region begreift Al Qadiri als Symbol der Verbindung der Erde mit dem Weltall, als Verweis auf ihren kosmischen Ursprung und - ganz wichtig für die Künstlerin: fehlende empirische Gewissheiten. Die Wüste wird bei ihr zum Ort der Spurensuche nach dem Sinn der Existenz.

DKAUSSTELLUNGEN VERLÄNGERTDie Kapsel-Ausstellungen laufen bis 30. August, "Theaster Gates: Black Chapel" endet am 16. August. "Brainwashed. Sammlung Goetz im Haus der Kunst" wird bis zum 16. August verlängert; die Präsentation im Luftschutzkeller ist wie üblich donnerstags bis sonntags zu sehen. "Franz Erhard Walther. Shifting Perspectives", ist bis zum 29. November zu sehen. Das Tagesticket gilt für sämtliche Ausstellungen im Haus der Kunst und kostet zehn Euro.



Joachim Goetz