Ingolstadt
"Schlingerkurs durch die Geschichte"

Der Offizier Martin Springfeld hat sich mit der Rolle des Ingolstädter Kampfkommandanten Paul Weinzierl befasst

22.04.2022 | Stand 23.09.2023, 0:51 Uhr
Die letzten Kriegstage 1945 in und um Ingolstadt hat Martin Springfeld genau rekonstruiert und bei einem Vortrag des Historischen Vereins anhand von Karten dargestellt. −Foto: Seitz

Ingolstadt - Ingolstadt im Jahr 1946, ein Jahr nach der totalen Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, der allein in Ingolstadt über 600 Zivilisten das Leben kostete.

Die Stadt ist in Teilen zerstört, die Spruchkammern der Alliierten versuchen herauszufinden, wer im "Tausendjährigen Reich" Nazi war, Mitläufer, minder- oder unbelastet. In einer eidesstattlichen Erklärung vom 2. August dieses Jahres schreibt Paul Weinzierl, dass er dem damaligen OB Josef Listl rechtzeitig im Vertrauen mitgeteilt habe, die "Verteidigungsmaßnahmen so organisiert" zu haben, dass "Ingolstadt nach menschlichem Ermessen nicht viel passieren" könne. Falls diese Absichten "misslingen, dann habe ich mich eben für unsere Heimatstadt geopfert".

Paul Weinzierl (1897-1979), so das über Jahrzehnte gepflegte Narrativ, habe die Stadt wohl am meisten zu verdanken, denn der damalige Reserveoffizier gilt als Retter Ingolstadts in den dramatischen Tagen des Aprils 1945, als der Einmarsch der US-Armee bevorstand. Doch stimmt das auch? Es gibt fundierte Zweifel an der Darstellung Weinzierls, wie der Ingolstädter Oberleutnant Martin Springfeld nach intensivem Studium der erhaltenen Akten und Unterlagen herausgefunden hat. Auf Einladung des Historischen Vereins hat er in einem Vortrag im Neuen Schloss den Endkampf um Ingolstadt akribisch aufbereitet - und zwar aus der Sicht eines Historikers und Militärs, was die Sache besonders interessant macht.

Zum besseren Verständnis ein kurzer Rückblick: Im Oktober 1944 zum Kampfkommandanten der Festung (ab 7. April 1945 nur noch Ortsstützpunkt) Ingolstadt ernannt, befehligte Weinzierl insgesamt ein paar Hundert Mann, schlecht bewaffnet, kaum ausgebildet und wohl wenig motiviert, ihr Leben zu opfern: Die Lage aussichtslos, der "Endsieg" eine Utopie. In dieser völlig hoffnungslosen Situation sollte er Ingolstadt unter allen Umständen halten.

Vollstreckungskommando: Ein Offizier und zwölf Mann

Major Weinzierl hat nach eigener Darstellung am 20. April 1945 bei einer Inspektion durch Generalleutnant Rudolf Koch-Erpach sogar sein Leben riskiert, als dieser die Vorbereitungen Weinzierls zur Verteidigung Ingolstadt als unzureichend beurteilte. "Ich ziehe Sie als vereidigten Kampfkommandanten dafür zur Verantwortung, ein Vollstreckungskommando von einem Offizier und zwölf Mann habe ich zu Ihrer Hinrichtung bestellt", soll Koch-Erpach gesagt haben. Doch auch mit Hilfe von anderer Seite schaffte es Weinzierl, den General von seinen Maßnahmen zu überzeugen. Es gelang sogar die kampflose Übergabe der Stadt an die Amerikaner, was sicher viele Menschenleben gerettet hat.

Paul Weinzierl, ein Ingolstädter Held? Martin Springfeld zieht nach akribischem Studium der Unterlagen etwas andere Schlüsse. "Mit Weinzierl ist ein weiterer nützlicher Held geschaffen worden", lautet das Fazit des Oberleutnants. Weinzierl, Kämpfer schon im Ersten Weltkrieg, war Mitglied der Allgemeinen SS und ab 1937 der NSDAP. "Er war kein Spitzenfunktionär, er hat sich durchlaviert", so Springfeld, der von einem "Schlingerkurs durch die Geschichte" spricht. Der Name Weinzierl sei während der Kampfhandlungen selten gefallen, nach dem Krieg umso öfter. Zweifellos wollte Weinzierl die Stadt kampflos übergeben. Doch er habe es verstanden, so Springfeld, "das eigene Narrativ auf den Weg zu bringen". Nach dem Krieg wurde der Kiesunternehmer als Mitläufer eingestuft, zahlte 1500 Mark Strafe und machte Karriere als CSU-Bundestagsabgeordneter und Stadtrat.

Äußerst aufschlussreich sind Springfelds Begründungen seiner Thesen, weil er dies als Historiker und Militär macht. Der ehemalige Afghanistan-Kämpfer hat in einem Kurs für Offiziere mit mehreren Leutnanten ein Planspiel gemacht - und zwar mit der Ausgangslage Ingolstadts im April 1945, was die jungen Offiziere aber nicht wussten. Das Ergebnis des Planspiels: "Es ist genau das rausgekommen, was Weinzierl geschildert hat", sagt Springfeld. Will heißen: Die Leutnante im Planspiel mit ihrem Auftrag zur Verteidigung Ingolstadts hätten zwar genau dasselbe getan wie Weinzierl im April 1945. Nur dass dieser später erklärte, er habe quasi in Absprache mit OB Listl so bewusst die Nicht-Verteidigung organisiert.

Drohender Luftangriff von den Amerikanern selbst abgesagt

Neben anderen Details, wie dem Schwächeanfalls Weinzierls während der eigentlichen Übergabeverhandlungen, die dann Hauptmann Brugger bis zur Kapitulation der Stadt am 27. April um 7.20 Uhr führte, hat sich Springfeld intensiv mit dem Komplex der Sprengung der drei Donaubrücken am 26. April und einem drohenden Luftangriff am selben Tag befasst. Weinzierl, so hieß es, habe die Bombardierung Ingolstadts verhindert, so wie er auch die Zerstörung der Brücken verhindern wollte. Doch wie Springfeld und vor ihm auch schon andere herausgefunden haben, haben die Amerikaner selber diesen vermeintlichen Vernichtungsangriff abgesagt, da er nicht mehr nötig war: Die Deutschen hatten kurz zuvor die Brücken selber gesprengt, um den Vormarsch der Alliierten in Richtung "Alpenfestung" aufzuhalten. "Hätte Weinzierl die Brückensprengungen tatsächlich verhindert, wäre Ingolstadt bombardiert worden", so Springfeld.

Wer war Paul Weinzierl also? Springfeld spricht von einer "Gemengelage", von vielen unterschiedlichen Faktoren, die es zu bewerten gelte - auch unter Berücksichtigung der Situation im April 1945. "Daher ist es völlig legitim, auch andere Schlüsse zu ziehen. " Details seiner Arbeit können im Internet nachgelesen werden.

Vor Springfeld hatte der Historiker Maximilian Fügen einen aufschlussreichen Überblick über die Bedeutung von Kampfkommandanten gegeben. Fügen ist Autor des Buchs "Bis zum letzten Mann? Die Rolle der Kampfkommandanten deutscher Großstädte 1945", Baden-Baden, Tectum Wissenschaftsverlag 2018.

DK

Bernhard Pehl