Schlaf der Vernunft

Ein Ereignis: Der Liederabend mit Benjamin Appl und James Baillieu beim Konzertverein Ingolstadt

01.03.2020 | Stand 23.09.2023, 10:58 Uhr
Große Kunst: Benjamin Appl und James Baillieu im Ingolstädter Festsaal. −Foto: Schaffer

Ingolstadt - Es gibt Ereignisse, die sind so tieftraurig, so unerfindlich düster, so unverständlich böse, dass einem eigentlich die Stimme versagt.

Sie sind so, dass man kaum noch Worte dafür finden kann, geschweige denn Töne. Wie geht man um mit den Gräueltaten, die die Nazis in den Konzentrationslagern den Juden angetan haben? Wie überhaupt kann man das verarbeiten - das Elend der Kinder, die in den Bombenangriffen im spanischen Bürgerkrieg 1936 zugrundegingen? Wo bleibt da die große, allumfassende, vielbeschworene Macht der Musik? Muss sie verstummen vor all dieser Not?

Nichts ist vielleicht bedrückender, schwerer, als künstlerischer Ausdruck an der Schwelle des unsagbar Furchtbaren. Wer kann hier den richtigen, den wahrhaftigen Ton treffen? Der junge Regensburger Bariton Benjamin Appl hat seinen Liederabend beim Konzertverein Ingolstadt der Nacht gewidmet. Am Ende seines langen, intelligent zusammengestellten Liederkranzes kommt er in das Reich, das er "Dunkelste Nacht" nennt: Lieder, die eigentlich weniger mit einer Tageszeit zu tun haben als mit den tiefsten Abgründen der menschlichen Natur.

Die jüdische Schriftstellerin und Musikerin Ilse Weber war so nah dran an dieser düstersten Facette des Menschlichen wie kaum jemand sonst. Sie wurde nach Theresienstadt deportiert und später, mit Kindern, die sie betreute, in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Mit ihren Liedern hat sie auf die Tragödie aufmerksam gemacht und gleichzeitig Trost spenden wollen. Im Moment des Todes hat sie den Kindern ein selbst komponiertes Wiegenlied vorgesungen, heißt es. Die Lieder von Weber ("Wigala" und "Ich wandre durch Theresienstadt") sind vielleicht keine große Kunst. Sie klingen fast harmlos, schön, ein klein wenig von leiser Bitterkeit durchdrungen. Aber sie entstanden an einem Ort des Entsetzens.

Große Kunst werden diese Lieder erst durch den Kontext. Und mehr noch: Durch die Musiker, die diese Werke aufführen und in der Lage sind, in jeder noch so arglosen Wendung, die Tragik der Situation aufscheinen zu lassen.

Benjamin Appl und seinem Liedbegleiter James Baillieu gelingt das absolut faszinierend. Beide Musiker deuten die Schönheit dieser Liedzeilen fast nur an. Appl singt so zerbrechlich, so leise, dass sich der so selbstgewisse Schönklang der Melodien kaum entfalten kann. Die Fassungslosigkeit vor dem Unbeschreiblichen kommt durch den Verzicht auf äußerliche Schönheit zustande. Anders steht es um das Bürgerkriegslied "The Children" des zeitgenössischen Komponisten James MacMillan. Der Verzicht, der Leerraum, der das Entsetzen freilegt, das nicht gezeigt werden kann, sondern nur hinzugedacht, ist bereits hineinkomponiert. Das Lied ist ein fahler, meist vom Klavier unbegleiteter Klageruf, den Appl mit eisiger Würde zelebriert. Wie schockierende Bombenexplosionen fährt das Klavier dabei dem intimen Gesang in die Parade.

Und dann - das ist vielleicht der größte Kunstgriff dieses wunderbaren Liederabends - setzen Appl und Baillieu dieser Katastrophenmusik das gänzlich andere entgegen: Nach der beklemmend langen Nacht, kommt mit Richard Strauss der "Morgen" (op. 27/4) - voll schillernder, purer Anmut. Appl und Baillieu musizieren das so überwältigend, mit solcher inneren Reinheit, dass man spürt: Ja, es gibt Katastrophen, aber es gibt auch ein Danach, es gibt auch ein Reich des Guten und Schönen, das weiter besteht, leise, ohne zu triumphieren, einfach ein Moment der Liebe, morgens am Strand, während die Klaviertöne perlen wie leise Wellen. Und das ist kein Kitsch, keine einlullende Lügengeschichte über die Welt, dazu ist es viel zu glaubwürdig, zu ergreifend gesungen.

Allein diese letzten Lieder des Abends im Ingolstädter Festsaal machen fassungslos. Aber das ganze Konzert ist überwältigend. Appl und Baillieu spannen einen großen dramaturgischen Bogen, beginnen mit dem "Nachtstück" von Franz Schubert, das den Tod beschwört, gehen weiter zu den nächtlichen Romanzen, zu dem viel besungenen Mond und den Sternen, den schweren Träumen, Fantasien und Insomnien. Das ist schlüssig und packend, auch weil die beiden Künstler so fantastische Musiker sind. Appl war der letzte Schüler des Jahrhundertsängers Dietrich Fischer-Dieskau. Aber er ist ein gänzlicher anderer musikalischer Charakter. Anders als der immer überakzentuierte, die Konsonanten knallende verstorbene Star, singt Appl stets weich und rund, versinkt in dem melodiösen Gestus der Lieder. Seine Stimme ist fast vibratolos rein, in der Tiefe rau und erdig, in der Höhe fast tenoral. Wenn er loslegt, dann strömt metallischer Glanz. Er singt mit großer Leichtigkeit, die Möglichkeiten seines Ausdrucks scheinen fast unbegrenzt. Vor allem aber kann man bei Appl fast jedes Wort verstehen. So ist es hinreißend, wenn er die drei Figuren in Franz Schuberts "Erlkönig" wie in einem Drama im Wirbel von Wind und Nacht miteinander sprechen lässt. Oder - vielleicht der gelungenste Beitrag des Abends - er im balladenhaften "Belsazar" (von Schumann) eine zutiefst packende Erzählung formt, von triumphaler Selbstherrlichkeit bis hin zu gespenstisch gehauchter Urangst.

Appl und Baillieu verstehen die menschliche Natur, ihre Fantastik, die nächtlichen Auswüchse des Überirdischen, den Schrecken und das Glück. Und sie finden die richtigen Töne dafür. Das macht ihren Liederabend zum Ereignis.

DK

Jesko Schulze-Reimpell