Bittersüße Schwermut
Sabatier, Wuttke und Holzenkamp entfachten argentinisches Tango-Fieber

14.03.2022 | Stand 23.09.2023, 0:12 Uhr
Bewegender Abend: Tangos beim Konzertverein. −Foto: Schaffer

Ingolstadt - "Aufbruch" hieß das Konzert des Tango-Trios um den französischen Bandoneonisten William Sabatier.

Und Aufbruchstimmung war wirklich spürbar im Theaterfestsaal, sobald der herausragende Instrumentalist mit seinen beiden wunderbar harmonierenden Ensemblepartnern Friedemann Wuttke an der Gitarre und Winfried Holzenkamp am Kontrabass das melancholische Vorwärtsdrängen, die leidenschaftlich-virtuose Energie der Kompositionen von Tango-Nuevo-König Astor Piazzolla auflodern ließ.

Die bittersüße und doch zart verspielte Schwermut aus "Adiós Nonino", dem hochemotionalen, gefühlsgeladenen Nachruf Piazzollas auf seinen verstorbenen Vater, erhielt so bei den drei Musikern zusätzliche Dimensionen voll spröder Rauheit und temperamentvollem Feuer. Das flimmernde Flair von Buenos Aires dagegen, die hitzig pulsierende Glut, die neu erwachende, blühende Verführung dieser Metropole (und zugleich Geburtsstadt des Tangos! ) zeichnete die Formation mitreißend nach in "Verano Porteño" (Sommer), rhythmisch aufgeheizt durch betont perkussive Elemente, und in "Primavera Porteña" (Frühling), zwei Sätzen aus dem Jahreszeiteinzyklus "Las Cuatro Estaciones Porteñas".

Sanftere, elegischere, nostalgischere Töne schlug das durch absolute Fokussiertheit faszinierende Trio dann zu "Chiquilin de Bachin" im wehmütig sich wiegenden Walzertakt an, bevor die Atmosphäre bei "Escualo" sofort erneut durch synkopiertes Pochen und anheizende Verve bestach. Fantastisch, wie die Tango-Spezialisten in die Töne regelrecht hineinzugleiten schienen, mit ihnen verschmolzen, um sie gleich darauf doch wieder umso schärfer zu akzentuieren. Hohe passionierte Gestaltungskunst, gepaart mit wendiger Fingerfertigkeit.

Diesen poetisch-dramatischen Werken jeweils direkt gegenübergestellt wurden im ersten Teil berühmte Kompositionen aus vorherigen Epochen, die Piazzollas Schaffen nachhaltig beeinflusst hatten: Bachs "Air" kam auf diese Weise, gespielt nur auf Kontrabass und Gitarre, besonders schlicht, pur und ohne Schnörkel zur Geltung. Und Mozarts Rondo "Alla Turca" erfuhr dadurch einen überraschend sprudelnden, fast südländisch anmutenden Charakter. Am deutlichsten wurde jedoch die musikalische Verwandtschaft zwischen Piazzolla und Bartók - und zwar in dessen Rumänischen Volkstänzen: Das folkloristische Timbre, die authentische Ursprünglichkeit sind bei beiden Komponisten unüberhörbar.

Piazzollas letztem großen Vermächtnis, den "Five Tango Sensations", war die zweite Programmhälfte gewidmet. Die darin heraufbeschworenen Gemüts-, Seins- und Seelenzustände, von Schlafen und Wachen über Liebe bis hin zur Angst, loteten die Künstler berührend kompromisslos und tiefgründig aus. Mit beeindruckender Farbgebung brachten sie die mannigfaltig schattierten Tempowechsel, Stimmungsveränderungen und Gefühlsnuancen zum Klingen, musizierten impulsiv, affektreich, schwelend, aufgewühlt, ruppig, expressiv, in bedingungsloser Hingabe an die Emotionen.

Einhelliger Jubel, gefolgt von zwei Zugaben - als erste aus gegebenem Anlass die Hymne des ukrainischen Volkes. Bereits in der Pause hatten die Musiker unter reißendem Absatz ihre CDs verkauft, deren Erlös der Flüchtlingshilfe zugute kommen soll.

Ein bewegender Abend voller Melancholie, Leidenschaft und Solidarität, mit aufatmender, nach vorne schauender, befreiender Wirkung, der sicher auch Großmeister Piazzolla selbst gefallen hätte.

DK


Heike Haberl