Realitätsferne Arroganz eines Politikers

07.01.2021 | Stand 18.02.2021, 3:34 Uhr

Ebenfalls zum PK-Artikel "Patientenwohl und Wirtschaftlichkeit in Einklang bringen" (PK vom 31.12.2020/1.1.2021):Die Arroganz des CSU-Bundestagsabgeordneten, den Sie in Ihrem Artikel zitieren, ärgert mich: Die Sachbearbeiter der Krankenkassen und auch die fachfremden Ärzte beim MDK seien sehr gut ausgebildet, sodass sie durchaus bewerten könnten, welche Therapie notwendig sei.

"Die Dekadenz ärgert mich, dass ihnen die Qualifikation pauschal abgesprochen wird", entgegnet der Abgeordnete den Lechleuthners. Der Weg zu einer Lösung müsse über den Konsens führen. "Es kann nicht sein, dass sich Anwälte und Sozialgerichte einmischen. "

Menschen mit Behinderungen müssen um alles kämpfen, das für Nichtbehinderte selbstverständlich ist. Oft von klein auf und das ein ganzes Leben lang. Der demütigende Behördenzirkus und die Probleme mit den Krankenkassen sind für Außenstehende unvorstellbar.

Oft ist es schon sehr schwer, überhaupt einen Anwalt zu finden, der helfen kann und will, denn wir lohnen uns erfahrungsgemäß nicht. Viele von uns leben in der Grundsicherung, das heißt auf Hartz-4-Niveau. Auf Termine für Hauptverhandlungen beim Sozialgericht wartet man derzeit circa zwei Jahre.

Hier nun von "Dekadenz? zu sprechen, wenn jemand um seine Rechte kämpft, finde ich unangemessen und sehr arrogant. Die realitätsferne Arroganz eines Politikers, der selbst nicht betroffen ist.

Wer mal mit dem MDK, den Kassen und den Behörden jahrelang um seine Rechtsansprüche gekämpft hat, kann mitreden, wie oft die Sachbearbeiter keine Ahnung von der Problematik haben und was für Leute zu den "Begutachtungen? in die Wohnungen geschickt werden.

Es gäbe extrem viel zu verbessern in unserem System. Viel zu oft wird auf Zermürbung und Entwürdigung gesetzt, damit die Betroffenen irgendwann aufgeben, um die benötigten Hilfen zu kämpfen. Deutschland hat sich da nicht viel weiterentwickelt und immer wieder fühle ich mich an die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte erinnert, wenn ich mitbekomme, wie oft Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen als minderwertiges Leben betrachtet und behandelt werden.

Es kann nicht nur sein, dass sich Anwälte und Sozialgerichte einmischen, das muss sogar so sein, wenn es eben anders nicht funktioniert, weil viel zu viel an notwendigen Hilfen boykottiert wird.

Ich möchte dem Herrn Abgeordneten die Lektüre der UN-Behindertenrechtskonvention ans Herz legen. Deutschland hat sie unterzeichnet, aber bis heute nicht umgesetzt. Christlich und sozial ist das jedenfalls nicht.
Patricia Koller
Vorstand Behindertenverband Bayern e. V. ;
Aktivistin für Behindertenrechte und Inklusion;
Leiterin eines bundesweiten Selbsthilfenetzwerks