Lenting
Rätselhafter Raubmord in der Poststelle

11.10.2019 | Stand 23.09.2023, 8:57 Uhr
In diesem Flachbau war 1996 die Lentinger Poststelle untergebracht. Am Hintereingang links neben der Garage war Manfred Deindl überfallen und getötet worden. Der Fall ist bis heute ungeklärt −Foto: Richter

Lenting (DK) Manfred Deindl war am 19. September 1996 in Lenting an seinem Arbeitsplatz überfallen und getötet worden. Der Täter räumte den Tresor leer und flüchtete unerkannt. Der Fall ist bis heute ungeklärt. Die Kripo Ingolstadt lässt aktuell noch einmal DNA-Spuren abgleichen.

Seine Gewissenhaftigkeit lässt ihm keine Ruhe. Es ist gegen 13 Uhr, als der Postbeamte Manfred Deindl aus Kösching (Kreis Eichstätt) nach dem Mittagessen daheim aufbricht, er muss zum Dienst im benachbarten Lenting. Eine halbe Stunde eher als sonst, denn er möchte noch Geld abheben, um nach Feierabend mit seiner Frau einkaufen zu gehen. Vor allem will er die Zeit dafür nutzen, seinen Posten geordnet zu hinterlassen. Es ist der letzte Arbeitstag des als überaus korrekt bekannten 46-Jährigen in der Lentinger Poststelle, bevor er vier Tage später - an seinem Geburtstag - in den Ingolstädter Ortsteil Oberhaunstadt versetzt werden soll. "Der Manfred war ein sehr geschätzter Kollege, auf den man sich zu 100 Prozent verlassen konnte", sagt ein früherer Kollege vom Hauptpostamt in Ingolstadt. Doch Deindls Leben endet an jenem 19. September 1996 ebenso jäh wie brutal: Ein Unbekannter überwältigt ihn bei seinem Eintreffen am Hintereingang der Post, erdrosselt ihn nach heftigem Kampf und raubt den Tresor aus. 23 Jahre später ist der Mord an dem Köschinger noch immer nicht geklärt.

Der gewaltsame Tod des Postbeamten ist an Tragik kaum zu überbieten. Seine eigene Frau hatte den Toten entdeckt, nachdem sie gegen 15 Uhr Anrufe von Kollegen ihres Mannes erhalten hatte, weil die Poststelle noch immer geschlossen war. "Was soll ich als Ehefrau da machen? Warum schauen sie nicht selbst nach?", hatte sie gedacht. Sie war trotzdem nach Lenting gefahren. Eine Postangestellte sperrte ihr auf, um gleich hinter der Tür die grausige Entdeckung zu machen. Dieser Anblick sei das Allerschlimmste gewesen, sagt die Köschingerin. Die Frage, wer ihren Mann umbrachte, verfolgt sie über die Jahre hinweg bis zum heutigen Tag.

Tragisch mutet das Geschehen auch an, weil Manfred Deindl einige Zeit vor dem Überfall böse Vorahnungen hatte. Er berichtete sogar seiner Frau davon. Etwa fünf Mal vor dem Verbrechen war ein auffälliger Kunde in der Poststelle aufgetaucht und hatte in einem Fall eine Telefonkarte gekauft und die übrigen Male nach Kontaktlinsen gefragt - ob er die Sehhilfen verloren hatte oder auf eine Lieferung wartete, ließ sich nicht nachvollziehen. Handelte es sich nur um einen Vorwand, um die Örtlichkeit auszuspionieren? Manfred Deindl schöpfte jedenfalls Verdacht, nicht zuletzt wegen des forschen Auftretens des Unbekannten, der sich "Dieter Grasser" nannte. "Du, das ist so komisch", erzählte er seiner Frau. Und er schrieb einen Zettel: "Überfall, 2. Versuch".

Die Putzfrau der Post beschrieb den Unbekannten später als 35-jährigen Mann. Andere Zeugen berichteten zudem von einem etwa 20-Jährigen, der zur fraglichen Zeit an der Post herumgelungert war, als würde er Schmiere stehen. Seine welligen Haare trug er über den Ohren kurz, hinten deutlich länger. Und es gab Hinweise auf einen VW-Passat mit Heilbronner Kennzeichen, der wohl dem Duo oder einem der zwei gehörte.

Aber ist der "Linsen-Mann", wie er bei der eigens für den Mordfall eingerichteten Ermittlungsgruppe der Kripo Ingolstadt hieß, tatsächlich der Mörder? Würde einer, der den Tatort ausspäht, nicht eher unauffällig vorgehen, anstatt ganz offensichtlich die Nähe des späteren Opfers zu suchen und damit Argwohn zu wecken? "Diese Gedanken haben wir uns natürlich auch gemacht", sagt Erster Kriminalhauptkommissar Stefan Hagen, damals Ermittlungsleiter in dem Mordfall. "Fakt ist aber, dass dieser Mann in der Post war und aufgefallen ist, auch sonst passt vieles zusammen." Was Hagen und seine Kollegen nicht davon abhielt, alle anderen Möglichkeiten "abzuklopfen". Könnte es ein Kollege gewesen sein, der selbst einen Schlüssel zur Post hatte und den Tresor ausräumen wollte, als Deindl unerwartet früh aus der Mittagspause zurückkehrte und ihn überraschte? Die Ermittlungen gegen Postbedienstete sorgten damals intern für große Empörung, aber "es ist in solchen Fällen völlig normal, dass wir in alle Richtungen vorgehen", erklärt Stefan Hagen.

Die Polizei tut sich vor allem deswegen so schwer, weil nach dem Auffinden des Toten anfangs vieles schiefgelaufen ist. Nach dem ersten Schock war ein Arzt hinzugezogen worden, der zunächst von einem Blutsturz - also von einem natürlichen Tod - ausgegangen war. Die Leiche lag so, dass die Strangulationsmale am Hals vom Hemdkragen verdeckt blieben. Die Kripo anzurufen, daran dachte zunächst keiner. Nach und nach tauchten Kollegen des Opfers und Neugierige auf, irgendwann eine Streife der Ingolstädter Polizeiinspektion. Sie schöpfte aber nach der Aussage des Mediziners zunächst ebenfalls keinen Verdacht. Das änderte sich schlagartig, als ein Postbediensteter aus dem Ingolstädter Hauptpostamt eintraf. "Der Manfred ist dagelegen, ganz blau im Gesicht. Ein ganz schreckliches Bild", erinnert sich der Mann. "Das ist mir sehr lange nachgegangen." Als die Polizisten von ihm wissen wollen, ob etwas gestohlen worden ist, verweist er darauf, dass er für eine Prüfung die Tresorschlüssel brauche. "Erst da ist aufgefallen, dass sie verschwunden waren. Da ist die Polizei auf einmal hellhörig geworden", erinnert sich der Zeuge. Er holt die Ersatzschlüssel, sperrt den Safe auf - und findet ihn leer vor! Fast 12000 Mark sind verschwunden, anfangs war die Summe etwa 1000 Mark niedriger taxiert worden. In der Zwischenzeit sind die Verletzungen Deindls aufgefallen, demnach ein Raubmord!

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Erst jetzt wird die Kripo alarmiert. Spurenmäßig ist nur noch wenig zu holen. Am Ende sichert der Erkennungsdienst über 30 Fingerabdrücke, die sich alle zuordnen lassen - bis auf einen Handabdruck. Stammt er vom Täter? Und es gibt eine verunreinigte DNA-Spur, die aktuell noch einmal bei der Rechtsmedizin untersucht werden soll. "Die Forensik hat sich seit 1996 enorm weiterentwickelt, vielleicht kommen wir doch weiter", sagt Kripo-Ermittler Hagen.

Die Polizei horcht drei Jahre nach der Tat noch einmal auf, als in Mainhardt bei Schwäbisch-Hall ein nahezu identischer Überfall auf eine Poststelle erfolgt, das Opfer überlebt nur mit viel Glück. Aber auch dieser Fall bleibt bis heute nebulös, "uns liegen aber einige DNA-Spuren vor, die uns irgendwann weiterbringen könnten", sagt David Ebert vom Polizeipräsidium in Aalen. Fahndungen in Fernsehsendungen wie "Aktenzeichen XY? ungelöst" führen die Ermittler ebensowenig zum Erfolg. Im Sommer 1999 gesteht ein nach einem versuchten Bankraub in Regensburg festgenommener 34-Jähriger den Mord von Lenting. Doch der psychisch kranke Mann kann es nicht gewesen sein, stellt die Kripo fest.

War es doch einer aus Manfred Deindls Umfeld? "Fremde hätte er niemals hereingelassen, nicht einmal einen Bekannten", sagt sein langjähriger Kollege Heinz Auernhammer (71), damals Zusteller in Lenting. Er ist sicher: "Da hat ihm einer vor dem Hintereingang aufgelauert." Einer aus den eigenen Reihen? "Das glaube ich nicht, ein Postler hätte eine andere Zeit gewählt, weil er die Abläufe kennt. Wenn die Renten ausbezahlt worden sind, war oft doppelt so viel im Safe wie am Tattag."

Es bleibt die Hoffnung auf einen Mitwisser, dem der Mörder sich anvertraut hat. Er könnte sich nach so langer Zeit, ohne Strafen befürchten zu müssen, an die Polizei wenden. Die damals ausgesetzte Belohnung von 5000 Mark hat noch Bestand, der Fall lässt sich sofort wieder aufrollen. Nicht zuletzt würde ein Fahndungserfolg der Witwe des Ermordeten ein wenig Seelenfrieden zurückgeben. "Meinen Manfred macht es nicht mehr lebendig. Aber es würde mich sehr beruhigen, wenn man den Täter fasst. So einer muss gerecht bestraft werden."

Horst Richter